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Wenn das Schlachten vorbei ist

Wenn das Schlachten vorbei ist

Titel: Wenn das Schlachten vorbei ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Maschine geräumt. Um diese Zeit werden am Strand nur ein paar Hundebesitzer und Jogger sein, das hofft sie jedenfalls, und so schlüpft sie in ihre Sneaker und tritt hinaus in den Morgen.
    Den Block hinunter, vorbei am Hotel und seiner epikureischen Rasenfläche, die Luft ist kühl und noch frisch, auf der Zufahrtsstraße ist kein Verkehr. Sie überquert die Straße diagonal, auf dem kürzesten Weg zu der Treppe, die zum Strand führt. Sie hat den Tidenkalender nicht im Kopf – keine Zeit für so was, und außerdem lässt sie sich lieber überraschen –, und so freut sie sich, als sie die weite Fläche aus nassem Sand sieht, die sich bis zu den Untiefen mit den dunklen, vom zweimal täglich vorbeiströmenden Wasser glattgeschliffenen Felsbuckeln erstreckt. Ebbe. Bei Flut schlägt die Brandung an die Mauer, und Alma muss den gepflasterten Fußweg auf der Uferbefestigung nehmen. Vom Strand aus sieht man Santa Cruz als langen, braunen Streifen am Horizont. Hier gibt es keine großen Wellen – die laufen parallel zur Küste durch den Santa-Barbara-Kanal –, und darum ist dieser Strand eigentlich nicht besonders interessant. Es ist ein hübscher Strand, kein Zweifel, aber es gibt viele Tidentümpel, und es wird kaum etwas angespült. Abgesehen von Abfall. Und Hundescheiße, sorgsam in Plastiktüten verpackt. Macht sie das wahnsinnig? Und wie. Dass die Leute etwas Natürliches, biologischen Abfall, Fäkalien, das Endprodukt eines tierischen Prozesses in Plastik verpacken, damit zukünftige Archäologen es in tausend Jahren aus einer ehemaligen Müllkippe ausgraben können, ist reiner Wahnsinn. Diese Welt. Diese verrückte, zum Untergang verurteilte Welt.
    Sie steht auf dem Strand und erwägt die Optionen – links oder rechts –, bevor sie sich entscheidet, nach rechts zu den Klippen zu gehen, die Santa Barbara an dieser Seite umschließen, in Richtung der Pier und des verrückten Treibens der Zivilisation, um zu sehen, ob sie zwischen den Felsen, die im Lauf der Jahre abgebröckelt und in die Brandung gestürzt sind, vielleicht etwas Interessantes findet. Wenn die Ebbe besonders mickrig ist, wie es jetzt der Fall zu sein scheint, taucht dort ein Riff mit ein paar Tümpeln auf, in denen die üblichen Verdächtigen sitzen: Muscheln, Seeigel, Strandschnecken, Seeanemonen und Einsiedlerkrebse, außerdem vielleicht hin und wieder als Überraschung ein leuchtend blau-weißer Nacktkiemer oder ein gestrandeter Oktopus. In einem Frühjahr ist dort der Kadaver eines jungen Grauwals angeschwemmt worden, mit Bisswunden, die auf einen Weißen Hai hindeuteten, und im vorletzten Sommer, während der Planktonblüte, ist sie auf eine Gruppe von Menschen gestoßen, die ein Seelöwenjunges ins Wasser zerren wollten, das offenbar an Land gekommen war, um sich zu wärmen.
    Das Tier war deutlich unterernährt – sie vermutete eine Domoinsäurevergiftung, weil das mit dem Plankton aufgenommene Toxin sich in der Nahrungskette anreichert und mit der Muttermilch in hoher Konzentration abgegeben wird –, und als sie bei der Gruppe ankam, versuchte ein kahlrasierter junger Latino in einem engen T-Shirt, es über die Felsen und ins Meer zu ziehen. Ohne nachzudenken sprang sie hinzu und fiel ihm wütend in den Arm, obgleich er deutlich größer war als sie. In ihrem Kopf ertönte ein Schrei – wieder ein wohlmeinender Tierfreund, der genau das Falsche, genau das Tödliche tat –, und sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Lassen Sie los!« brüllte sie, starr vor Wut, und stand da wie angenagelt – ihre Hand hielt seinen Arm umklammert, als wäre sie etwas Mechanisches aus Schrauben, Muttern und Titanröhrchen –, bis er gehorchte. Und dann, als das Seelöwenjunge seinem Griff entglitt und der Mann sie so verständnislos ansah, dass sie beinahe Mitleid mit ihm bekam, fügte sie hinzu, mit einer Stimme, so hart wie Stahl: »Treten Sie zurück, alle!«
    Sie stellte sich zwischen ihn und das Tier, das panisch über die Felsen kriechen wollte, aber zu schwach war und sich lediglich auf den Flossen aufrichtete und wieder zusammensank, und in diesem Augenblick kam Leben in den Mann. Er starrte sie an und sagte: »Wer sind Sie überhaupt?« Auf der Innenseite des linken Handgelenks hatte er eine kleine, verblasste Tätowierung – einen springenden Delphin –, und sein Atem roch nach Mandarinen, als wäre er soeben durch eine Mandarinenplantage spaziert.
    Interessante Frage: Wer war sie überhaupt? Das zielte auf ihre Autorität ab:

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