Wenn das Schlachten vorbei ist
Was gab ihr das Recht, sich einzumischen, wenn er doch zuerst hiergewesen war und nur das Naheliegende tun wollte, wenn er seine Muskel- und Willenskraft einsetzte, um seiner Freundin und seinen Kumpeln und vielleicht auch den anderen Schaulustigen zu imponieren, indem er sich als barmherziger Samariter erwies, getrieben nicht von Selbstliebe, sondern vielmehr von Liebe für alles Lebendige? Noch heute spürt sie den Stich der Peinlichkeit, wenn sie an ihre Antwort denkt: »Ich bin Wissenschaftlerin.«
Na gut. Wenigstens war das Tier gerettet. Sie rief mit ihrem Handy das Zentrum für Meeressäugetiere an, während die Schaulustigen zurücktraten und der junge Seelöwe, der nur aus Haut und eckigen Knochen zu bestehen schien, sich langsam beruhigte. Jetzt, da sie auf die Felsen zugeht, verblasst die Erinnerung an diesen Zwischenfall, denn sie entdeckt etwa zweihundert Meter vom Strand entfernt eine Schule Rundkopfdelphine, fünf oder sechs Exemplare. Sie sind drei bis vier Meter lang, bis zu fünfhundert Kilo schwer und gehören zu den größten Delphinen überhaupt; normalerweise jagen sie in tieferem Wasser, und ihr Anblick so nah am Strand ist für Alma ein seltenes Vergnügen. Sie geht zügig dahin und versucht, mit den in Richtung der Felsen schwimmenden Tieren Schritt zu halten, als sie vor sich eine Gestalt sieht, einen Mann mit zwei Hunden, der ihr entgegenkommt. Die Hunde – Köpfe, wie mit dem Airbrush gezeichnet, abfallende Kruppen, auf die Knochen gemalte Haut – sind Greyhounds, wie sie jetzt sieht, und sie denkt: Ein guter Mensch, er hat sie von einer Hunderennbahn in Florida gerettet , bis sie ihn genauer ins Auge fasst und ihren Irrtum erkennt. Da sind die breiten Schultern, der Unterkiefer, der zu lange Hals und irgend etwas in seinem Gang – aber nichts davon macht ihn unverwechselbar. Es gibt viele Männer mit einer solchen Statur, Männer, die ausschreiten, als würden sie mit jedem Schritt irgend etwas oder irgend jemand in den Staub treten. Nein, es sind die Dreads. Sandfarbene Dreads, die von seinem Kopf abstehen, als würde er durch einen Windkanal gehen.
Sie spürt einen Anflug von Panik. Er hat sie gesehen, dessen ist sie sicher. Muss das jetzt sein, eine hässliche Auseinandersetzung, an diesem Morgen, wo sie doch bloß einen Strandspaziergang machen und den Augenblick genießen will? Sie überlegt, ob sie ausweichen, die Richtung ändern, umkehren soll – das Riff kann sie sich jederzeit ansehen, morgen oder übermorgen –, als er ihren Namen ruft und sie erstarrt. »He, Alma!« ruft er. Die Hunde traben vor seinen nackten, ausschreitenden Beinen wie Abfangjäger. »Alma Boyd! Alma Boyd Takesue!«
Sie hat es Tim nie erzählt – er hat nicht gefragt und würde es ohnehin nicht glauben; sie kann es ja selbst kaum glauben –, aber sie hat einmal einen Abend mit Dave LaJoy verbracht, einen katastrophalen, vorzeitig beendeten Abend. Sie hat mit ihm zu Abend gegessen. Oder vielmehr: Sie wollte mit ihm zu Abend essen. Sie hat ihn in einem Musikclub in der Stadt kennengelernt, einem Café, in dem junge, unbekannte Songwriter auftreten. Eines Abends ging sie allein dorthin – sie war neu in der Stadt, hatte erst seit ein paar Wochen diesen Job und war glücklich, ihn bekommen zu haben, und bis sie Tim begegnete, sollten noch sechs Monaten vergehen –, und am Nachbartisch saß, mit einem Freund, ein gutaussehender Mann in den Dreißigern. Er trug ein Tournee-T-Shirt, auf dessen Rücken ein Bild von Micah Stroud mitsamt Gitarre war, und das war in ihren Augen ein Pluspunkt, denn damals war Micah Stroud nur Eingeweihten ein Begriff. Und ihr gefielen sein Lächeln, seine Haltung, seine Frisur, die eine Einstellung zum Ausdruck brachte: Es gab nicht viele Männer seines Alters mit Dreads. Sie hielt ihn für einen Musiker oder Künstler, einen Schriftsteller oder Fotografen vielleicht, für einen freien, unabhängigen Geist jedenfalls. »Sie sehen so allein aus«, sagte er. »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?«
Und das tat sie. Es war ein schöner Abend. Und als das Wochenende kam, rief er an und lud sie zum Essen ein, in ein Restaurant ihrer Wahl. Nach Rayfield und drei Jahren auf Guam, wo sie gelernt hatte, allein zurechtzukommen, war sie nicht sonderlich erpicht auf eine neue Beziehung, und da sie über ihn nicht mehr wusste als das, was er ihr selbst erzählt hatte – ihm gehörten ein paar Elektronikläden, er war geschäftlich erfolgreich, liebte die Natur und war Single –,
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