Wenn der Golem erwacht
sperrte den Innenhof ab. Mittendrin ein breites Tor, geschlossen. Davor ein Wächter im schwarzen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen und schwarzer Kappe mit breitem Schirm. Zum Schutz gegen den Regen stand er unter der weit ausladenden Krone einer alten Eiche, die sich auf der anderen Zaunseite erhob.
Der Mann hatte den Mantel aufgeknöpft und fingerte darunter an etwas herum. Ich sah es trotz der Dunkelheit, dank jener Bilder aus Licht und Schatten, die mir ebenso fremd wie hilfreich waren. Jetzt holte er seine MP hervor, die er zum Schutz gegen den Regen unter dem Mantel getragen hatte, und legte auf mich an. Meine Heckler & Koch war noch auf Feuerstoß eingestellt, und ich schoß, während sein regenfeuchter Daumen zum Sicherungshebel glitt. Er stöhnte und drehte sich halb um die eigene Achse, bevor er kraftlos zu Boden sackte.
Mir blieb keine Zeit, um nachzusehen, ob noch Leben in ihm war. Es war für mich auch nicht wichtig. Meine Schüsse lockten das Scheinwerferlicht an. Endlich fand ich einen großen, einsamen Schlüssel an seinem Gürtel, mit dem ich das Tor öffnen konnte. Gerade in dem Augenblick, als beide Lichtkreise sich vereinigten und mich mit ihrer hellen Strahlenflut übergossen.
Ich zog das Tor ein Stück auf und rannte hinaus in die dunkle Nacht. Das doppelte Licht verfolgte mich, aber bald schirmten mich zahlreiche Bäume ab. Ich war frei – so frei wie ein Hase, der von einer Hundemeute gejagt wird.
Hinter mir ertönte Motorengeräusch, wurde schnell lauter, und die Strahlen von Autoscheinwerfern tanzten über das Astwerk der Bäume. Ich drückte mich gegen den breiten Stamm einer Buche und sah zu der Straße hinüber, die keine fünfzig Meter entfernt verlief. Ein Geländewagen holperte über den löchrigen Asphalt, blendete mich mit seinen Lichtern für eine halbe Sekunde und verschwand in der Dunkelheit.
Ein zweites Fahrzeug folgte und preschte ebenfalls an mir vorbei. Ich wollte schon aufatmen, da hörte ich den Wagen abbremsen, nur wenige hundert Meter entfernt. Türen wurden aufgestoßen, Stimmen erklangen. Ein Suchtrupp schwärmte aus. Dass meine Verfolger keine Handscheinwerfer aufflammen ließen, wunderte mich nicht. Wahrscheinlich waren sie mit Nachtsichtgeräten ausgerüstet.
Ich lief von der Straße weg, tiefer in den Wald hinein. Das Gelände war mir so unbekannt wie die Männer, die mich jagten. Wie der Grund, aus dem sie mich suchten. Und wie der, weshalb ich vor ihnen floh. Mich trieb nur ein Instinkt an: das animalische Wissen der gejagten Kreatur, dass ihre Verfolger ihr nichts Gutes wollen.
Es regnete noch immer, und das Wasser tropfte von den Bäumen. Der Boden war aufgeweicht, schlammig, rutschig. Mehrmals verlor ich den Halt und schlug in den Dreck. Die MP5 hatte ich längst wieder gesichert, damit ein unabsichtlicher Feuerstoß mich nicht verletzte oder verriet.
Handy und Walkie-Talkie warf ich weg. Ich wusste nicht, wen ich hätte anrufen sollen. Die Polizei? Ich hatte gerade zwei Menschen erschossen. Das Walkie-Talkie konnte mir zwar behilflich sein, die Pläne meiner Verfolger zu erkennen. Aber das Risiko, anhand der Geräte angepeilt zu werden, erschien mir zu groß.
Ich hatte kein bestimmtes Ziel außer dem, meinen Verfolgern zu entkommen. Hin und wieder hörte ich hinter mir ihre Stimmen oder das Geräusch brechender Zweige. Der Schweiß rann in Strömen an mir herab, in meine Lungen stachen tausend Nadeln, Astwerk peitschte mir schmerzhaft ins Gesicht, aber ich rannte weiter. Vor meinem Krankenhausaufenthalt – oder meiner Gefangenschaft – musste ich eine sehr gute Kondition gehabt haben, sonst hätte ich das nicht durchgehalten.
Größeren Büschen und Bäumen wich ich rechtzeitig aus, auch wenn sie von tiefster Dunkelheit umhüllt waren. Ähnlich wie bei der Tür, durch die ich das Gebäude verlassen hatte, spürte ich die Anwesenheit von Hindernissen, die für meine Augen unsichtbar waren. Es war wie ein sechster Sinn.
Hin und wieder blieb ich stehen und lauschte. Irgendwann waren die Geräusche meiner Verfolger verschwunden. Ich hörte nur noch das Rauschen des Blattwerks im Nachtwind und das Prasseln des unermüdlich fallenden Regens. Und meinen rasselnden Atem. Ich war am Ende meiner Kräfte, und ein bohrender Schmerz wütete in meinem Kopf. Offensichtlich hatte ich mir zu viel zugemutet.
Aber hier draußen, inmitten von Nässe und Dreck, konnte ich schlecht bleiben. Auch war ich mir nicht sicher, ob ich die anderen endgültig
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