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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
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abgeschüttelt hatte. Also lief ich weiter, ignorierte den Kopfschmerz und das immer stärkere Stechen in meinen Seiten so gut es ging. Weiter, immer weiter! Wie lange ich durch den unendlichen Wald trottete, wusste ich nicht.
    Mehr taumelnd als laufend erreichte ich eine kleine Lichtung. Das ehemals dichte Wolkengeflecht war auseinander gerissen. Der Mond beleuchtete ein kleines Blockhaus, eine Jagdhütte. Von innen drang kein Licht nach draußen. Massive Läden waren vor die Fenster geklappt. Von der anderen Seite führte ein unbefestigter Weg durch den Wald zur Hütte. Alte Reifenspuren hatten sich tief in den Boden gegraben. Jetzt stand kein Fahrzeug auf der Lichtung. Das Ganze machte einen unbewohnten Eindruck.
    In geduckter Haltung, die MP schussbereit, rannte ich quer über die Lichtung zur Hütte und drückte mich gegen die vordere Holzwand. Der Dachvorsprung schützte mich vor dem Regen, aber das war unerheblich. Längst war ich nass bis auf die Knochen. Von innen war kein Laut zu hören, aber das konnte auch an dem unaufhörlichen Pock-pock-pock der gegen die Hütte prallenden Regentropfen liegen.
    Ich entsann mich jener seltsamen Fähigkeit, die mich hätte erschrecken müssen, wäre sie mir nicht so hilfreich gewesen. Ich starrte die hölzerne Wand an und versuchte hindurchzusehen. Diesmal wollte es nicht gelingen. Vielleicht, weil sich niemand in der Hütte aufhielt?
    Vorsichtig drehte ich am Türknauf, ohne Erfolg. Erwartungsgemäß war die Tür verschlossen. Es war ein Sicherheitsschloss einfacher Bauart. In den Taschen der Cargo-Hose steckte neben Ersatzmagazinen für die MP5K auch ein leichtes Aluminium-Taschenmesser mit mehreren Klingen und Werkzeugen. Damit gelang es mir, das Blech des Türschlosses zu lockern und das Schloss zu öffnen. Wie bei meiner Befreiung mit der Kugelschreibermine wusste ich auch jetzt haargenau, was ich zu tun hatte.
    Knarrend sprang die dicke Holztür auf. Das einfallende Mondlicht beleuchtete den kombinierten Wohn- und Schlafraum, in dem sich kein Mensch aufhielt. Auf zwei schmalen Bettpritschen lagen Decken und Kissen ordentlich zusammengefaltet. Zwei hölzerne Stühle standen verlassen an einem kleinen Holztisch. Ein großer Schrank, wie die gesamte Einrichtung aus Naturholz gefertigt, füllte wuchtig eine der hinteren Ecken aus. Über Gasherd und Spüle einer kleinen Küchenzeile hing ein Küchenschrank, vermutlich mit Geschirr gefüllt. Ein kleiner, durch eine Schiebetür abgetrennter Raum enthielt ein Waschbecken und eine chemische Toilette.
    Zu meiner Enttäuschung fand ich keine Lebensmittel, nicht einmal Wasser. Nur ein paar Haushaltsutensilien wie Streichhölzer und Teelichter. Der große Eckschrank enthielt auf der einen Seite leere Gewehrhalterungen. Auf der anderen Seite lagen ein paar zusammengefaltete Kleidungsstücke und Handtücher. Ich zog mich aus und rieb mich mit den Handtüchern trocken, bevor ich die muffig riechenden Sachen aus dem Schrank anzog: Hose und Hemd aus Baumwolle, die mir beinah passten. Schuhe fand ich nicht.
    Ich stellte die nassen Stiefel zum Trocknen hin und zog die Hüttentür zu, bevor ich mich auf eine der Pritschen legte. Die Heckler & Koch, mit einem der vollen Ersatzmagazine bestückt, deponierte ich griffbereit unter mir.
    Meine Glieder schmerzten, in meinem Kopf arbeitete ein Presslufthammer. Ich war hundemüde, aber ich wehrte mich gegen den Schlaf. Vielleicht kannten meine Verfolger diese Hütte, oder sie stießen zufällig darauf. Ich musste wachsam sein, durfte mich zwar ausruhen, doch nicht schlafen. So hing ich meinen Gedanken nach, die überaus beunruhigend waren.
    Mit einer Routine, die ein Bankkassierer beim Geldzählen an den Tag legt, hatte ich zwei Menschen überwältigt und zwei weitere getötet. Offenbar konnte ich mit modernsten Schusswaffen ebenso mühelos umgehen, wie ich Schlösser mit einfachstem Werkzeug öffnete. Hinzu kamen meine seltsamen Fähigkeiten, andere Menschen hinter Wänden und Hindernissen im Dunkeln zu erkennen. War das alles wirklich geschehen? Oder träumte ich es nur, war es eine Reaktion meines in Mitleidenschaft gezogenen Gehirns?
    Ich wusste nichts von dem limbischen System, das Ambeus zufolge bei mir in Mitleidenschaft gezogen worden war. Aber das Wort ›Limbus‹ kannte ich. Das Wort kam aus dem Lateinischen, wo es so viel wie ›Gürtel‹, ›Saum‹ oder ›Grenzgebiet‹ bedeutet. Im übertragenen Sinn bezeichnete es einen Teil der Unterwelt. Der Katholizismus benannte mit Limbus

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