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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
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nach mir aus, um mich in die Tiefe des Blutmeers zu ziehen, wo all die toten Menschen auf mich warteten.
    Ich wehrte mich, schüttelte die Beklemmung von mir ab und rannte weiter. Schnell! Dass Ira und die beiden Männer außer mir die einzigen Menschen hier waren, war kaum anzunehmen. Der Hall meines Feuerstoßes hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit die anderen alarmiert.
    Hinter mir ließ ich den Sterbenden zurück und fragte mich nur kurz, warum ich kein Bedauern über seinen Tod empfand. Vielleicht war ich das Töten gewohnt. Vielleicht konnte ich nicht den Tod eines Mannes bedauern, der wohl kaum gezögert hätte, auf mich zu schießen. Vielleicht aber auch war ich zu Mitleid unfähig. Wie hatte Dr. Ambeus doch gesagt: »Das limbische System ist ein sehr komplexes Gebilde aus mehreren Hirnstrukturen, mitverantwortlich für die Entstehung von Gefühlen und emotionalen Verhaltensweisen.«
    Irreparable Schäden?
    Der Luftzug wurde stärker, je näher ich dem dunklen Ende des Ganges kam. Die Deckenlampe war ausgefallen, vor mir lag eine alles verschlingende Schwärze. Und doch wusste ich, dass der Gang vor mir zu Ende war. In meinem Gehirn war plötzlich die Vorstellung einer glatten Fläche, die den Gang abschloss.
    Ich tauchte in das Dunkel ein und dachte jetzt erst an die Taschenlampe, die am erbeuteten Gürtel befestigt war. Ich nahm sie in die Linke und ihr dicker weißer Lichtstrahl entriss der Dunkelheit eine alte Holzbohlentür. Durch die Türritzen drang frische Luft herein, viel angenehmer als die abgestandene Luft hier drin. Und ich hörte ein leises Trommeln, das beständig von außen gegen die Tür schlug.
    Ein atmosphärisches Knacken drängte sich dazwischen. Es kam von dem Walkie-Talkie an meinem Gürtel, gefolgt von einer krächzenden, um Kraft ringenden, immer wieder stockenden Stimme: »Hier Wulf … bin verwundet … Götz wahrscheinlich ausgeschaltet …« Wieder knackte es, und dann bäumte sich die schwache Stimme noch einmal auf: »Der Golem – er haut ab!«
    Erneutes Knacken. Dann mehrere Stimmen in alarmiertem Tonfall. Eine Stimme setzte sich durch und befahl, den Westflügel abzuriegeln. Ich musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass ich selbst mich in diesem Westflügel befand. Und ich erkannte meinen verhängnisvollen Fehler: Ich hätte den angeschossenen Wächter, Wulf, zum Schweigen bringen sollen.
    Ich schob den Riegel an der Holzbohlentür zurück, schaltete die Lampe aus und hängte sie wieder an den Gürtel. Die Tür schwang mit einem lang gezogenen Knarren auf, und ein Schwall frischer, feuchter Luft, wie ich sie schon lange nicht mehr geatmet hatte, umhüllte mich. Für einen Augenblick schloss ich die Augen und genoss tief atmend das Gefühl von Wind und Regen. Die schweren Regentropfen hatten das Trommeln verursacht, das ich eben gehört hatte.
    Als ich die Augen wieder öffnete, blickte ich auf den Innenhof eines großen, aus mehreren Trakten bestehenden Gebäudes. Ein altes Gemäuer, aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, wenn nicht älter. Das erkannte ich trotz des schwachen Nachtlichts. Der Wind trieb ausgedehnte Wolkenbänke vor sich her, die das Licht von Mond und Sternen immer wieder verschluckten. Das Gebäude, fast schon ein Schloss, musste allein zum Innenhof mindestens achtzig Fenster haben. Aber kein Lichtstrahl drang nach draußen. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass die meisten Fenster mit Brettern vernagelt oder mit Decken oder Planen verhängt waren. Allerdings schienen es alte Bretter und löchrige Decken zu sein.
    Strahlend helles Licht blendete mich plötzlich, und erneut kniff ich die Augen zu. Blinzelnd blickte ich wieder hinaus und sah die Lichter zweier Scheinwerfer, die auf Hausdächer montiert waren. Die großen Lichtkreise schwankten anfangs unsicher hin und her, huschten suchend über den Hof, bevor sie sich auf Erdgeschosshöhe einpendelten. Langsam und systematisch glitten sie an der Front des Gebäudes entlang, auf der Suche nach mir. Keine halbe Minute und der erste Lichtkreis erreichte meine Tür. Ich musste verschwinden, entweder zurück ins Gebäude oder nach draußen.
    Ich trat hinaus, zog die Tür hinter mir zu und lief quer über den Hof, auf die einzig offene Seite zu. Der Boden war asphaltiert, aber im Belag klafften tiefe Löcher. Mehrmals trat ich in Pfützen, was ein hässliches Platschen nach sich zog.
    Ich hatte mich getäuscht, ganz offen war der Hof an dieser Seite nicht. Ein drei Meter hoher Gitterzaun

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