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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
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ich mich befand. Und selbst dann hätte ich nicht gewusst, wohin ich mich wenden sollte.
    Erneutes Brummen ertönte in der Ferne, diesmal aus der anderen Richtung. Kurz überlegte ich, ob ich mich wieder in die Büsche schlagen sollte. Das war der sichere Weg, aber wohin sollte er führen? Ich entschied mich für das schnellere und bequemere Vorankommen – und für das Risiko –, als ich die MP und die Magazine ins Unterholz schleuderte.
    Das Motorgeräusch war tiefer und lauter als das des Pkws eben. Ein großer Lastzug röhrte um die Kurve, gleißendes Scheinwerferlicht floß über den Asphalt. Ich trat dicht an den Straßenrand und schwenkte die Arme über dem Kopf. Der Koloss rollte auf mich zu, ächzte, zischte und wurde langsamer, bis er quietschend zum Stehen kam, keine fünf Meter von mir entfernt. Der Sattelschlepper hatte ein Hamburger Kennzeichen, und auf den Seitentüren prangte fett der Name der Spedition: ASS-TRANS. In der Windschutzscheibe stand auf einem nachgemachten Nummernschild der Name des Fahrers: KURTCHEN.
    Ich riss die Beifahrertür auf und stellte fest, dass Kurtchen ein ausgewachsener Kurt mit mindestens hundertdreißig Kilo Fleisch auf den Rippen war. Obwohl die Nacht kalt und es in der klimatisierten Fahrerkabine nicht viel wärmer war, schwitzte er. Sein graues T-Shirt wies unter den Achseln tellergroße Flecke auf.
    »Rein oder raus?«, fragte der fleischige Mund unter dem üppig wuchernden Schnauzbart. »Ich muss noch vorm Frühstück in Berlin sein.«
    »Berlin?«, fragte ich. »Ist das weit?«
    Kurtchen sah mich aus zusammengenkniffenen Augen an. »Na, so an die hundert.«
    »Kilometer?«
    »Nee, Seemeilen.«
    »Nimmst du mich mit?«
    Kurtchen verengte die Augen so stark, dass sie fast zwischen den Fleischmassen seines Gesichts verschwanden. »Was glaubst du, warum ich hier stehe? Um die schöne Aussicht zu bewundern?«
    »Danke.« Ich zog mich am Türholm in die Fahrerkabine und schloss die Tür.
    Der Blick des Truckers glitt über meine verdreckte Kleidung. »Eine Panne gehabt?«
    Ich nickte.
    Er zeigte auf das klobige CB-Funkgerät, das vor ihm am Armaturenbrett hing. »Soll ich den Abschleppdienst rufen? Oder den ADAC?«
    »Nicht nötig. In Berlin habe ich Freunde, die mir mit dem Wagen helfen.«
    Mit einem Blick auf meine Füße meinte Kurtchen: »Hoffentlich haben die auch Schuhe für dich, Kumpel.«
    »Das hoffe ich auch. Meine stecken irgendwo im Matsch.«
    Ob er mir glaubte? Das erschien mir mehr als zweifelhaft. Aber egal, Hauptsache, er brachte mich von hier weg.
    Der Trucker rührte mit dem Schalthebel im Getriebe und trat aufs Gaspedal. Der bislang im Leerlauf gleichmäßig tuckernde Dieselmotor antwortete mit einem schweren Fauchen, und die Zugmaschine setzte sich in Bewegung.
    Um unangenehmen Fragen auszuweichen, stellte ich mich schlafend. Aus dem Radio plärrte sanfte Pop-Musik, der übliche Nachtmix zwischen Phil Collins und Celine Dion. Irgendwann unterbrach ein nerviger Jingle den Einheitsbrei, und nach kurzer Werbung kamen die Nachrichten. Es sei der zwanzigste September um fünf Uhr morgens, verkündete der jugendliche Sprecher, und begann mit einer Meldung über einen internationalen Wirtschaftsgipfel in Paris, auf dem der deutsche Bundeskanzler die Eröffnungsrede gehalten habe.
    Die Bassstimme des Truckers ertönte: »Wenn du mich fragst, der Zander ist ein Windbeutel.«
    »Wie bitte?« fragte ich, herzhaft gähnend, wobei ich mich nicht verstellen musste. Endlich zur Ruhe gekommen, wollten Körper und Geist nichts weiter als schlafen. Das gleichmäßige Brummen des Dieselmotors tat ein übriges.
    »Arnulf Zander, diese gelackte Type! Wenn der 'ne Kamera sieht, grinst er wie auf Knopfdruck. Das haben die ihm bestimmt irgendwie eingebaut.«
    »Arnulf Zander?«, wiederholte ich. »Wer ist das?«
    Kurtchen sah mich an wie einen Geist. »Mann, musst du müde sein!«
    »Wieso?«
    »Na, wenn du nicht mal mehr den Namen von unserem Bundeskanzler kennst!«
    Bundeskanzler?
    Der Trucker hatte Recht. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie der Kanzler hieß.
    Und das machte mir Angst.

 

    4
    U nter den Linden wehte ein kalter Wind, nicht so unangenehm, dass er die Passanten von der Straße gefegt hätte. Politiker und Geschäftsleute mit zugeknöpften Mänteln und hochgeschlagenen Kragen kreuzten mit zielstrebigem Schritt meinen Weg. Die zahlreichen Touristen ließen sich mehr Zeit, blieben im Licht von Straßenlaternen stehen, um in ihren Reiseführern zu blättern,

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