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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
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greifbar. Je länger ich darüber nachsann, desto stärker wurden meine Zweifel, ob ich nicht einer Täuschung erlegen war. Vermutlich hatte ich das Tor schon hundert Mal gesehen, in echt oder auf Bildern. Alles andere redete ich mir wohl nur ein, war das Ergebnis meines verzweifelten Wunsches, mich an etwas zu erinnern, an irgendetwas.
    »Kann ich helfen? Ist was nicht in Ordnung?«
    Die Frage schreckte mich auf, riss mich aus der Versunkenheit. Neben mir stand ein breitschultriger Mann in üppig betresster Livree. Ein Portier des Hotels Adlon, vor dessen Eingang ich stand. In seinen großen Augen lag weder Interesse noch Hilfsbereitschaft. Sein Blick taxierte mich, und seine Gedanken kreisten wohl darum, den verkommenen Kerl mit den ausgelatschten Sandalen möglichst schnell zu entfernen.
    Wortlos ging ich weiter und betrat den Pariser Platz. ›Salon der Republik‹ wurde er im allgemeinen Sprachgebrauch genannt. Weshalb, war mir schleierhaft. Mit einem eleganten Gesellschaftsraum ließ sich der nach der Wende neu gestaltete Platz jedenfalls nicht vergleichen. Schön anzusehen waren nur das Brandenburger Tor und der fast originalgetreue Neubau des Adlon.
    Alles, was dazwischen lag, wirkte, obwohl am Erscheinungsbild des frühen zwanzigsten Jahrhunderts orientiert, zu glatt und lieblos und so wuchtig, dass das Brandenburger Tor fast zerdrückt wurde. Als hätte man sich nach dem Fall der Mauer mit den Baumaßnahmen zu sehr beeilen müssen, um auf Schönheit und eine Gesamtkonzeption zu achten. Botschaften und Banken rahmten den Platz ein.
    Mein Blick glitt an den postmodernen Fassaden entlang und registrierte eine Vielzahl an Überwachungskameras und Sicherheitspersonal, sowohl Polizei als auch private Wachleute. War dies der richtige Ort für mich?
    Röhrender Motorenlärm ertönte. Ein wuchtiger Reisebus mit Hamelner Kennzeichen rollte an mir vorbei und hielt mitten auf dem Platz an, um eine vielköpfige Touristengruppe auszuspucken. Die Leute waren um die fünfzig und älter. Wie auf ein geheimes Kommando wandten sie sich dem Tor zu und machten sich an ihren Kameras zu schaffen. Etliche fummelten an billigen Apparaten herum. Damit das Brandenburger Tor im Halbdunkel aufzunehmen, war nicht mehr als ein untauglicher Versuch. Ein silberhaariger Mann hielt mit professionellem Griff eine kleine Videokamera an sein rechtes Auge und begann mit der Aufnahme. Die Kamera war nicht größer als ein Taschenbuch, und er konnte sie mit einer Hand halten.
    Nicht der Silberhaarige zog meine Aufmerksamkeit auf sich, sondern die schlanke Gestalt, die sich ihm von hinten näherte. Ein mittelgroßer, unscheinbarer Mann in Lederjacke, Jeans und Turnschuhen. Unter einer Wollkappe lugte ungepflegtes dunkles Haar hervor. Ein Teil seines Gesichts wurde von einem struppigen Vollbart verdeckt. Unmöglich zu sagen, ob der Typ fünfundzwanzig oder fünf und vierzig war.
    Ich hätte nicht einmal erklären können, warum er meinen Blick auf sich zog. Weil er die ganze Zeit schon wie ein Raubtier auf der Suche nach Beute auf und ab tigerte? Oder weil mir sein Anblick dasselbe Erlebnis verschaffte wie eben der Blick aufs Brandenburger Tor? Ich glaubte, diese Situation schon einmal erlebt zu haben.
    Kannte ich den Bärtigen? Vielmehr: Hatte ich ihn gekannt? Ich wusste es nicht. Er war für mich, nicht anders als ich selbst, ein Mann ohne Namen.
    Langsam, wie zufällig, näherte er sich dem Silberhaarigen, und dann ging alles blitzschnell: Der Bärtige griff zu, entriss dem anderen die Kamera und flitzte auch schon quer über den Platz in Richtung Tor.
    Der Beraubte stand wie erstarrt und sah ihm nach. Allen Touristen, die Zeugen des Überfalls geworden waren, erging es ebenso. Bis der Busfahrer den Bann brach und lauthals nach der Polizei rief.
    Eine doppelte Streife stand vor dem alten Wachhaus mit dem Touristeninformationsbüro, direkt neben dem Tor. Die beiden Uniformierten, ein Mann und eine Frau, spurteten los, um dem Flüchtenden den Weg abzuschneiden. Ich sah ihn schon in den Armen der Polizisten enden, da beschleunigte er sein Tempo wie ein Hundertmeterläufer bei den Olympischen Spielen. Bevor die Häscher ihn erreichten, sprintete er zwischen den dorischen Säulen hindurch und verschwand hinter dem Tor. Die Polizisten verfolgten ihn und ich folgte allen dreien.
    Warum? Es war ein unbestimmtes Gefühl, eine vage Hoffnung. Vielleicht hatte ich mich nicht getäuscht und ich kannte den Bärtigen wirklich. Wichtiger war, dass er dann auch

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