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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
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betrachteten die imponierenden Gebäude oder das Reiterstandbild des Alten Fritz. Kameraverschlüsse klickten, und Blitze zuckten durch das Abenddämmerlicht.
    Manch ein Blick blieb fragend an mir haften. Nur mit einem Hemd bekleidet, ohne eine schützende Jacke darüber, und mit offenen Sandalen an den nackten Füßen war ich in der Tat eine auffällige Erscheinung. Vermutlich ordneten mich die meisten irgendwo zwischen Spinner und Obdachlosem ein.
    Dass ich nicht ganz und gar barfuß über den Berliner Vorzeigeboulevard wandern musste, verdankte ich Kurtchen. Er hatte aus der heiligen Unordnung seiner kleinen Truckerkabine die ausgelatschten Sandalen gefischt und mir etwas Kleingeld in die Hand gedrückt, bevor wir uns verabschiedeten. Der Mann war nicht blöd und hatte meine Story mit der Autopanne durchschaut. Aber er half mir, ohne mich nach der Wahrheit zu fragen. Und dafür war ich ihm dankbar.
    Das war am frühen Morgen gewesen, in einem öden Industriegebiet bei Reinickendorf. Mit der U-Bahnlinie 6 war ich in die Innenstadt gefahren, bis zur Station Friedrichstraße, und seitdem wanderte ich durch die Hauptstadt.
    Ich stellte fest, dass ich Berlin gut kannte. Im Untergrund der U-Bahn fand ich mich ebenso zurecht wie auf der Straße. Ich wusste im Voraus, welche Kreuzungen mich erwarteten, und erkannte viele der berühmten Gebäude.
    Ich erinnerte mich!
    Euphorie überschwemmte mich. Wenn Berlin mir so vertraut war, hatte ich vor meinem Gedächtnisverlust vielleicht hier gelebt. Und wenn ich durch die Stadt lief, so meine Überlegung, würde die Begegnung mit vertrauten Plätzen vielleicht die verlorenen Teile meiner Erinnerung zurückbringen. Ich stellte es mir wie ein Puzzlespiel vor, bei dem man anfangs gar keinen Anhaltspunkt außer der Vorlage hat. Dann, Stück für Stück, setzt sich das Bild zusammen. Und je mehr Teile sich ineinander fügen, desto deutlicher wird das Bild und desto einfacher wird es mit dem Rest.
    Von dieser Hoffnung erfüllt, ging ich Stunde um Stunde durch die Straßen, und je mehr Stunden vergingen, desto geringer war die Hoffnung. Ich erinnerte mich an die Stadt, aber nicht an mich selbst.
    Beim Märkischen Museum hatte ich mittags vielleicht zwanzig Minuten vor einer Polizeiwache gestanden und überlegt, ob ich hineingehen sollte. Vielleicht war ich als vermisst gemeldet. Nur ein Blick in den Computer, und ich wusste, wer ich war.
    Aber vielleicht suchten unsere Freunde und Helfer mich auch aus anderen Gründen. Bei meiner Flucht aus der Klinik – oder was immer es darstellte – war ich davon ausgegangen, dass ich der Gute und Ambeus und seine Leute die Bösen waren. Doch woher sollte ich wissen, ob es sich nicht umgekehrt verhielt?
    Ein erschreckender und abschreckender Gedanke erfüllte mich: Wenn ich zur Polizei ging, würde ich vielleicht wieder an dem Ort landen, von dem ich geflohen war. Als zwei Uniformierte aus dem Gebäude traten und mich skeptisch musterten, hatte ich meine ziellose Wanderung fortgesetzt.
    Und jetzt, am kalten Abend eines langen, ereignislosen Tages, ging ich auf das Brandenburger Tor zu. In meinem Kopf hämmerte es, mein Magen zog sich vor Hunger zusammen. Am Vormittag hatte ich bei McDonald's ein lauwarmes Frühstück in mich reingeschaufelt, und vorhin am Alexanderplatz hatte ich mit einem Döner und einer Cola nachgeladen. Das war nicht viel, musste aber genügen. Kurtchen hatte mir keine Reichtümer mit auf den Weg gegeben.
    Scheinwerfer tauchten das Wahrzeichen Berlins in ein unirdisches Licht, ließen es aussehen wie mit einer blaugrünen Metallic-Legierung überzogen. Die Quadriga mit der Siegesgöttin wirkte, als wollte sie sich jeden Augenblick in den blauschwarzen Himmel erheben. Ich weiß nicht, wie lange ich starr stand und dieses Bild betrachtete. Es löste eine eigenartige Stimmung in mir aus. Da ich mich in Berlin auskannte, ich vielleicht in dieser Stadt gelebt hatte, war es nicht verwunderlich, wenn mir das Brandenburger Tor vertraut war.
    Aber das war es nicht, was mich alles andere vergessen ließ. Ich hatte ein Déja-vu-Erlebnis – oder das, was ein Mann ohne Gedächtnis stattdessen hat. Ich musste das Tor schon einmal bei ganz ähnlichen Lichtverhältnissen gesehen haben, und dabei musste etwas vorgefallen sein, das mich schwer beeindruckt hatte.
    Jedenfalls glaubte ich das. Aber auch die Erinnerung an jenes Ereignis war verschollen. Was mich in diesem Augenblick beschlich, war nur eine blasse Ahnung, unbestimmt und nicht

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