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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
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etwas: Menschen. Sie liegen dort auf dem Grund, reglos. Und sie starren mich aus toten Augen an …
    Das Rot war noch immer da, aber es umhüllte mich nicht länger. In sanften Wellen umspielte es ein attraktives Gesicht mit hohen Wangenknochen und sinnlich geschwungenen Lippen. Ein Gesicht, das mich so hart und wenig mitfühlend ansah wie die Gestalten aus meinem Traum, der Junge und die Toten auf dem Meeresgrund. Ein Gesicht, das die Erinnerung an ein anderes Erwachen zurückbrachte, an frühere Alb träume. Bei dem Anblick fragte ich mich, ob es wirklich eine Grenze gab zwischen Traum und Wachsein.
    Hinter der rothaarigen Frau tauchte der weißhaarige Kopf eines Mannes auf, dessen hohe Gestalt leicht gekrümmt war – so wie die Nase des Jungen aus meinem Traum. Netzwerke aus tiefen Falten lagen um die Augen des Mannes, die mich kalt und forschend ansahen, als sei ich nur ein Insekt, das es zu sezieren galt.
    Ich lag in einem weißen Bett in einem weißen Raum, einem fensterlosen Krankenzimmer, an Hand- und Fußgelenken gefesselt. Mein Schädel pochte, und mir war speiübel. Schlimmer als das alles aber war der erschreckende Gedanke, dass ich diesen Ort vielleicht niemals verlassen hatte. Meine Flucht, Max und Rica, alles, was ich herausgefunden hatte – war es nur ein Trugbild meines irrlichternden Verstandes?
    »Irreparable Schäden!« dachte ich, und mein verzweifelter Blick flog zwischen Ira und Ambeus hin und her.
    Ambeus beugte sich über mich, und der stumpfe Tonfall, in dem er zu mir sprach, entlarvte sein Lächeln als Maskerade. »Sprechen Sie doch weiter! Sie waren in dem Meer aus Blut und haben die Toten gesehen. Was war dann?«
    Ja – was war dann?
    Splitter einer verloren geglaubten Erinnerung bohrten sich durch den Mantel des Vergessens. Ich sah mich durch einen Gang laufen, hielt vor einem Zimmer an und stand einem anderen Mann gegenüber.
    »Sie erinnern sich!« Ambeus' Stimme drückte fast so etwas wie Jubel aus, bei ihm wohl eine seltene Empfindung. »Woran erinnern Sie sich?«
    »Woran erinnen Sie sich?«, entgegnete ich, um Zeit zu gewinnen, während ich mich in dem Raum umsah.
    Nein, dies war nicht der Ort, von dem ich geflohen war. Die medizinischen Geräte waren gleich oder ähnlich, aber ihre Anordnung und die Ausmaße dieses Raums unterschieden sich deutlich von Zimmer 17. Ich fühlte mich etwas sicherer, glaubte, wieder zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden zu können.
    »Ich frage, und Sie antworten!«, sagte Ambeus in jenem unverwechselbaren autoritären Ton, der Ärzten, Lehrern, Offizieren und Polizisten zu eigen ist. »Alles andere führt zu unnötiger Verwirrung.«
    Ich sah ihm fest in die Augen. »Ich bin bereits verwirrt, sogar ganz beträchtlich. Zum Beispiel frage ich mich, ob ich mit Dr. Ambeus spreche oder mit Professor Baumes.«
    Ein kaum merkliches Zucken lief über seine Züge, dann hatte er sich auch schon wieder in der Gewalt. »Kompliment, Sie scheinen Einiges herausgefunden zu haben. Lassen Sie mich an Ihrem Wissen teilhaben!«
    Ich wollte meinen Kopf schütteln, stellte das aber augenblicklich ein, als es das schmerzhafte Pochen vervielfachte. »Erst reden Sie, Herr Professor!«
    Er wandte sich zu Ira um. »Ira, die Injektion! Im Schlaf scheint unser Patient gesprächiger zu sein als im Wachzustand.«
    Ich wollte mich wehren, als Ira mit der Spritze in der Hand auf mich zutrat. Aber ich war gefesselt und zwei Männer in Weiß traten an mein Bett um meinen rechten Arm festzuhalten. Ich fühlte das Kitzeln von Iras Locken auf meinem Gesicht, atmete den stärken Duft ihres Parfüms und konnte nur zusehen, wie sich die spitze Nadel langsam in mein Fleisch bohrte.
    »Bist du sicher, dass er reden wird?«, hörte ich Iras Stimme, die seltsam undeutlich klang, an- und abschwellend wie Brandungswellen, die sich am Strand brachen.
    »Er hat es schon einmal getan.« Auch Ambeus – Baumes? – sprach undeutlich, war kaum noch zu verstehen. »Der Elektroschocker … Erinnerung freigesetzt …«
    Das Rauschen des Meeres übertönte alles andere, und ich versank im Ozean meiner Erinnerung, tauchte ein in …
    … das Meer aus Blut!
    Fassungslos stehe ich im Eingang zum Konferenzsaal und starre auf die Toten. Keine zwei Minuten ist es her, seit ich das Knattern der Schüsse gehört habe, MP-Feuerstöße, die das Leben dieser Menschen ausgelöscht haben.
    Sechs Männer und zwei Frauen. Einige sind von den Kugeln aus ihren bequemen Drehstühlen geschleudert worden

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