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Wenn der Wind dich ruft

Wenn der Wind dich ruft

Titel: Wenn der Wind dich ruft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Teresa Medeiros
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der Pflock ihr aus den gefühllos gewordenen Fingern glitt.
    Die rubinroten Lippen der Frau teilten sich, enthüllten schimmernd weiße Reißzähne. »Wenn Sie gestatten, meine Liebe, kann ich auch Ihren Qualen ein Ende bereiten.«
    »Du hast versprochen, dass wir London verlassen«, erklärte Cuthbert vorwurfsvoll und hockte sich neben den knienden Julian auf den Boden. »Du kommst mitten in der Nacht an mein Fenster, weckst mich und sagst: Verlass dein gemütliches Bett und komm mit mir, Cubby. Nimm eine Handvoll von den Juwelen deines Vaters, und wir verbringen den Rest des Winters an den sonnigen Gestaden Südspaniens — mit irgendeiner niedlichen Balletttänzerin.«< Nach einem missfälligen Blick auf den dämmerigen Dachboden des verlassenen Lagerhauses zog er sich seinen Biberhut tiefer über die von der Kälte geröteten Ohren. »Stattdessen schleppst du mich in dieses elende Höllenloch, wo mir ein Halsabschneider jederzeit die Geldbörse stehlen oder gar die Kehle aufschlitzen kann.«
    »Wenn du nicht gleich mit dem Gejammer aufhörst«, erklärte Julian geistesabwesend, während er weiter durch das Loch spähte, das einmal mit einem Glas verschlossen gewesen war, »schneide ich dir die Zunge ab.«
    Cuthbert schloss den Mund. Sein Atem hing in kleinen weißen Wolken in der Luft, sodass er wie ein empörter molliger Drache aussah.
    Julian seufzte und drehte sich auf einem Knie um, schaute ihn an. »Ich habe dir doch gesagt, ich habe noch ein unerledigtes Geschäft in London. Sobald ich mich darum gekümmert habe, das schwöre ich dir, finde ich für uns beide den sonnigen Strand und eine verdammte Balletttänzerin für dich.«
    »Deine unerledigten Geschäfte haben normalerweise damit zu tun, in das Schlafzimmer einer Dame zu schleichen, um ein vergessenes Kleidungsstück zurückzubringen, ehe ihr Ehemann heimkommt. Jedenfalls gehörte bislang nie dazu, sich die halbe Nacht den Hintern in Charing Cross abzufrieren.« Er beugte sich vor, um die Straße unter ihnen zu betrachten, zwang Julian, ihn am Rockschoß festzuhalten, damit er nicht aus dem Fenster fiel. »Geht es um Wallingford? Hat er wieder etwas ausgeheckt? Oder hast du etwas gefunden, um ihn zu erpressen, damit er deine Schuldscheine zerreißt?«
    »Es geht darum, eine andere Schuld zu begleichen, die noch offen ist.« Julians Gedächtnis beschwor ungebeten ein Bild von Portia vor seinem geistigen Auge herauf, wie sie in ihrem Bett lag. Nur in seinen Gedanken öffnete sie die Augen und streckte ihm die Arme entgegen, hieß ihn willkommen. »Und ich werde London nicht verlassen, ohne dass sie beglichen ist.«
    »Nun, dann hoffe ich nur, dieser ungewöhnliche Anfall von Gewissensbissen erweist sich nicht als tödlich. Für uns beide.« Cuthbert lehnte sich zurück. »Was um alles in der Welt hast du eigentlich getrieben, seit du mich neulich bei meinem Vater abgeliefert hast? Und wenn ich an deine beeindruckende Vorstellung von vorhin im Kaffeehaus denke, kann es nicht das Essen gewesen sein. Ich habe noch nie einen Mann so viele praktisch rohe Rumpsteaks auf einmal herunterschlingen sehen.« Er schüttelte in widerwilliger Bewunderung den Kopf. »Aber ich muss zugeben, dass du jetzt deutlich besser aussiehst. Vorher warst du ausgesprochen blass.«
    Julian murmelte etwas Unverbindliches. Er war immer noch so hungrig, dass sogar Cubbys feister Hals appetitlich auszusehen begann.
    »Wenn wir erst einmal in Madrid sind, können wir vielleicht ...«
    »Pst!« Julian hob warnend die Hand, als eine Gestalt auf die Straße unten torkelte.
    Aber es war nur ein betrunkener Seemann auf der Suche nach einer neuen Kneipe. Irgendwo in der Ferne begannen Kirchenglocken Mitternacht zu läuten; ihr hoher reiner Klang wirkte in dieser gefährlichen Ecke der Hölle, wo Nebelschwaden wie Schwefeldämpfe über das Kopfsteinpflaster zogen, irgendwie fremd und fehl am Platz. Julian kniff die Augen zusammen, als eine weitere Gestalt aus dem Nebel auftauchte, der gerade erst den Seemann verschluckt hatte.
    »Es ist eine Frau«, erklärte Cuthbert.
    »Das kann ich selbst sehen«, erwiderte Julian scharf, dessen Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren.
    Die in einen Umhang gehüllte Frau schlenderte die Straße hinab, als hätte sie kein bestimmtes Ziel im Sinn. Julian hätte sie für betrunken gehalten, aber sie torkelte weder noch wankte sie. Wenn sie ein leichtes Mädchen war auf der Suche nach einer Möglichkeit, ein paar Münzen zu verdienen, dürfte es ihr nicht allzu

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