Wenn der Wind dich ruft
aus, schob seinen Stuhl nach hinten und sprang auf. Er ging um den Tisch herum, aber ehe er die Tür erreichen konnte, stellte sich Portia vor ihn, versperrte ihm den Weg.
»Nicht«, warnte er und tippte ihr mit dem Finger auf die Brust. »Ich liebe dich, als wärest du meine eigene Schwester, und wenn ich glaubte, es würde dich freuen, würde ich dir den Mond vom Himmel holen. Aber ich kann nicht zulassen, dass du mich davon abhältst zu tun, was getan werden muss.«
»Ich will dich nicht davon abhalten«, erwiderte sie. Eine merkwürdige Ruhe hatte sie erfasst, erfüllte sie mit gnädiger Taubheit. »Ich möchte dir helfen.«
»Wie?«, fragte er müde.
»Indem ich dir einen Köder zur Verfügung stelle, dem er nicht widerstehen kann.«
»Und was sollte das sein?«
Portia spürte, wie sich ihre Mundwinkel zu ihrem verführerischsten und gefährlichsten Lächeln verzogen. »Nicht was, sondern wer. Ich.«
6
Nebelschwaden waberten über das feuchte Kopfsteinpflaster. Früher am Tag hatte kalter Regen den Schnee von den Straßen gewaschen, die nun unter dem fahlen Licht der Straßenlaternen glänzten. Wolken hingen tief über den Dächern und Schornsteinen der Stadt, sodass die Nacht mondlos war und damit perfekt für die Jagd.
Drei Gestalten lösten sich aus dem Nebel — eine Frau, flankiert von zwei Männern. Trotz ihrer zierlichen Figur und der Tatsache, dass ihre beiden Gefährten sie um beinahe einen Fuß überragten, hätte ein flüchtiger Beobachter eventuell geglaubt, dass die Frau die gefährlichere von den dreien war. Und damit hätte er Recht gehabt.
Ihre dunkelblauen Augen glitzerten unter der Kapuze ihres taubengrauen Umhanges entschlossen. Ihre wohl gerundeten Hüften wiegten sich bei jedem Schritt verführerisch. Die Haltung ihres Kopfes verriet sowohl Zuversicht als auch Zielstrebigkeit. Sie war vielleicht gewillt, die Rolle des Opfers zu spielen, aber jeder, der dumm genug war, den Köder zu schlucken, den sie darbot, täte das eindeutig auf eigene Gefahr.
Als sie den Rand der verkommenen Gegend erreicht hatten, die hinter den königlichen Stallungen entstanden war, legte Adrian sich einen Finger auf die Lippen und bedeutete Portia und Larkin, ihm in eine verlassene Gasse zu folgen. Die drei kauerten sich dort in die Schatten eines überhängenden Daches wie Halunken, die in dieser nebeligen, unheimlichen Nacht etwas Übles im Schilde führten.
Diese Insel des Elends zwischen Charing Cross und dem Rande der Mall passte aufs Beste für die Zwecke eines jeden Bösewichtes, gleichgültig ob normaler Sterblicher oder Vampir. Gewundene Gassen und schmale Straßen trennten baufällige Behausungen von schäbigen Plätzen, die so trügerisch exotische Namen trugen wie die von karibischen Inseln oder den Bermudas. Manch arme Frau war in diese verlassenen Straßen gezerrt worden und ward nie wieder gesehen.
»Bist du sicher, du schaffst es?«, fragte Adrian Portia, seine Stirn in besorgte Falten gelegt.
»Wart's nur ab«, antwortete sie und öffnete die oberste Verschnürung ihres Umhanges, sodass das mit Schwanendaunen gefütterte Kleidungsstück nur noch lose um ihre Schultern hing.
Darunter trug sie ein Abendkleid aus üppigem Samt, dessen tiefes Granatrot an die Farbe von Blut erinnerte. Mit den geschlitzten Ärmeln und dem tiefen eckigen Ausschnitt hätte es besser zu einer Kurtisane gepasst als zu der Schwägerin eines angesehenen Viscounts. Sie hakte ihre Daumen in das steife Walfischknochenkorsett, das in das Oberteil eingenäht war, und drückte es nach unten, damit man die üppigen Rundungen ihres Dekolletés besser sehen konnte.
Adrian streckte die Hand aus, um es gleich wieder hochzuziehen, aber sie gab ihm einen Klaps darauf.
Er seufzte. »Ich kann nicht glauben, dass ich mich von dir dazu habe überreden lassen. Du weißt, dass deine Schwester dagegen war. Wenn ich es erlaube, dass dir irgendetwas geschieht, wird sie meinen Kopf fordern.«
»Und Vivienne will meinen ...«, begann Larkin, brach aber ab, als Adrian laut hustete. Nachdem er sich geräuspert hatte, fuhr Larkin fort: »Nun, auch sie wird meinen Kopf fordern.«
Portia schob ihre Haarnadeln gerade und zupfte ein paar Locken aus der hochgesteckten Frisur, da sie richtigerweise annahm, dass ein Sterblicher genauso wenig einer Frau widerstehen konnte, die aussah, als käme sie gerade aus dem Bett.
Obwohl ihr Herz so laut klopfte, dass sie fürchtete, ihre Schwager könnten es hören, rang sie darum, ihre Hände ruhig zu
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