Wenn der Wind dich ruft
Rücken. Ohne Vorwarnung wirbelte sie herum. Die Straße hinter ihr war leer. Jetzt verfolgte sie das Echo ihrer eigenen Schritte.
Sie schüttelte den Kopf über ihre Schreckhaftigkeit und nahm ihr gemächliches Schlendern wieder auf. Aber sie hatte erst ein paar Schritte gemacht, als sie abrupt stehen blieb. Weniger als zwanzig Schritte vor ihr stand eine hoch gewachsene Gestalt mit schwarzem Umhang im flackernden Lichtschein einer Straßenlaterne.
Portia wusste, es war ausreichend Zeit, um Hilfe zu rufen. Adrian und Larkin konnten zu ihrer Rettung eilen. Aber wenn sie ihnen zu bald das Zeichen zum Eingreifen gab, würde Julian am Ende fliehen. Sie wand sich innerlich, als sie erkannte, dass sie sich in einer pathetischen Ecke ihres Herzens beinahe wünschte, er würde das tun.
Sie schob ihre eiskalten Finger in die Rocktasche, schloss sie um den Pflock. Sie wusste jetzt, dass er ihn nicht als Abschiedsgeschenk auf ihrem Kissen gelassen hatte, sondern als höhnische Kampfansage.
Sie zwang sich, weiterzugehen. Die Gestalt unter der Laterne stand still und beobachtete sie ... wartete reglos, es sah aus, als atmete sie noch nicht einmal. Portia war beinahe dort, als sie eine Hand hob und die Kapuze zurückschlug ... um eine schimmernde weißblonde Lockenmähne freizulegen.
Portias Erleichterung war so groß, dass sie nach Luft schnappte. Es war kein Mann, sondern eine Frau. Und nicht irgendeine Frau, erkannte sie schnell, sondern eine der schönsten, die sie je erblickt hatte. Außer mit ihrem betörenden blonden Haar war sie mit einem Paar rubinroter Lippen und hypnotischer grüner Augen gesegnet. Ihre helle Haut war unheimlich faltenlos, sodass man ihr Alter unmöglich schätzen konnte. Ihre blassen schlanken Finger zierten Juwelen — ein funkelnder Smaragd, ein tropfenförmiger Rubin, ein Opal so groß wie ein kleines Taubenei. Portia fragte sich, was um Himmels willen sie in dieser Gegend verloren hatte. Vielleicht war sie die verwöhnte Mätresse eines reichen Adeligen, denn auf keinen Fall wäre eine so ungewöhnliche Schönheit eine gemeine Straßendirne.
»Sie sollten hier nicht alleine sein, Madame«, warnte Portia sie und warf einen Blick über ihre Schulter. »Die Straßen sind heute Nacht nicht sicher.«
»Sind sie das jemals?«, antwortete die Frau und musterte Portia von oben herab.
Portia meinte leichte Belustigung in ihrer heiseren Stimme zu vernehmen — und einen französischen Akzent, der nicht zu überhören war. »Vermutlich nicht in diesem Viertel. Haben Sie eine Kutsche in der Nähe?«
»Ich brauche keine Kutsche.« Die Frau blickte sich nach beiden Seiten um, sodass Portia ihr elegantes Profil bewundern konnte. »Ich warte auf meinen Liebhaber.«
Portia blinzelte, verblüfft von der Freimütigkeit und der hochmütigen Art der anderen. »Es ist sehr spät«, begann sie vorsichtig. »Sind Sie sicher, dass er kommt?«
Die vollen roten Lippen der Frau verzogen sich zu einem Lächeln. »Oh, er wird kommen. Dafür habe ich gesorgt. «
Sie schenkte Portia ein strahlendes Lächeln. Die konnte nicht anders, als sie anzustarren, gebannt in die katzenartigen Augen der Frau zu schauen. Sie fing an, sich wie eine Kobra in dem Korb eines Schlangenbeschwörers zu fühlen. Wenn die Frau sich zu wiegen begänne, fürchtete Portia, würde sie es ihr am Ende nachtun.
»Und warum wagt sich ein unschuldiges kleines Täubchen wie Sie heute Nacht auf die Straßen?«, wollte die Frau wissen. »Warten Sie auch auf Ihren Liebhaber?«
Portia versteifte sich. »Leider nein. Mein Liebster ...« — sie stolperte über das Wort — »mein Liebhaber hat mich betrogen. Er hat sich als Lügner erwiesen.«
Zu ihrer Überraschung streckte die Frau eine schneeweiße Hand mit blutroten Fingernägeln aus und streichelte ihr über die Wange. »Armes kleines Täubchen«, säuselte sie. »Mir hat auch einmal ein Liebhaber das Herz gebrochen. Der Schmerz war heftiger als alles, was ich kannte. Ich habe mir den Tod gewünscht.«
Portia verspürte in ihrem wunden Herzen Mitgefühl aufwallen. »Sie wollten wirklich sterben?«
Die Augen der Frau weiteten sich. »Nicht meinen Tod, Kleines. Seinen! Es ging mir viel besser, nachdem ich ihm das Herz aus dem Leib gerissen und verspeist hatte.«
Portia blieb der Mund offen stehen, aber ehe sie einen Schrei ausstoßen konnte, schoss die Hand der Frau vor und schloss sich um ihren Hals. Dann hob sie sie mühelos hoch, sodass Portias Füße nicht länger den Boden berührten und
Weitere Kostenlose Bücher