Wenn der Wind dich ruft
stolperte er zu dem Haken, um den die Seile geschlungen waren. Er legte den Kopf schief, runzelte die Stirn. Die Tritte kamen aus der falschen Richtung. Sie kamen nicht von draußen, sondern von drinnen, aus dem Erdgeschoss des Lagerhauses. Ein eiskaltes Band schnürte sich um seine Brust zusammen, als er begriff, dass sie ihr Versteck mit anderen geteilt hatten. Jemand, der gerade jetzt zu der Tür eilte, die Julian ihm zu bewachen aufgetragen hatte.
Er griff nach dem Seilende, zögerte dann aber unentschlossen. Hatte Julian ihm nicht gesagt, die Sandsäcke auf jeden fallen zu lassen, der durch die Tür wollte? Er hatte nicht genauer erklärt, aus welcher Richtung. Die Schritte kamen näher. In nur wenigen Sekunden hätten sie die Tür erreicht.
Ehe er die Nerven verlieren konnte, gab Cuthbert dem Seilknoten einen Ruck, sodass er sich von dem Haken löste und die Sandsäcke zu Boden rasten.
Zweimal dicht aufeinander polterte es, gefolgt von gedämpftem Stöhnen und dann Totenstille.
Mit verspätetem Mitleid zog Cuthbert den Kopf ein, dann spähte er vorsichtig über den Rand des Speicherbodens. In dem dämmerigen Licht konnte er nur mit Mühe zwei schattenhafte Gestalten auf dem festgetretenen Lehmboden ausmachen. Obwohl er bezweifelte, dass er sie umgebracht hatte, war er sich doch sicher, dass sie Julian in näherer Zukunft keine Schwierigkeiten machen würden — oder sonst jemandem. Er lächelte, klopfte sich den Staub von den Händen und sonnte sich in dem angenehmen Gefühl, zwei solche Hünen ohne Julians Hilfe ausgeschaltet zu haben.
Portia verdiente es nicht besser, als gefressen zu werden.
Sie hatte es zugelassen, dass die Meinung, Julian sei sowohl ein Mörder als auch ein Monster, sie völlig beherrscht und für alles andere blind gemacht hatte. Und jetzt würde eine blutsaugende Hexe sie umbringen, die sie aus zwanzig Schritt Entfernung als Vampir hätte erkennen müssen. Während sie im tödlichen Griff des Unwesens hilflos wie eine Stoffpuppe im Maul einer Dogge hing, musste sie daran denken, wie merkwürdig es war, dass die letzten Augenblicke ihres Lebens nicht von Panik oder Entsetzen geprägt waren, sondern von Verlegenheit und Scham über ihre eigene Dummheit — und einer bittersüßen Erleichterung, dass sie sich in Julian zutiefst geirrt hatte.
Die Spitzen ihrer dünnen Schuhe streiften das nasse Straßenpflaster, ohne Halt zu finden. Die Frau wickelte sich eine Handvoll ihrer Locken um eine Faust und zerrte einmal kräftig daran, sodass ihr Kopf zur Seite ruckte.
Als sie einen von ihren roten Fingernägeln unter Portias Halsband schob und es herunterreißen wollte, damit sie besser an die weiche Haut des Halses herankäme, kniff Portia die Augen zu. Sie konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob Julian sie wohl vermissen würde.
Sie wartete darauf, dass die Reißzähne sich senkten, auf den gleißenden, bohrenden Schmerz, der ihre Welt in die Farbe des Blutes tauchen würde. Aber nichts geschah. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Die Frau hatte immer noch einen Finger unter dem Samtband, ihre spitzen Eckzähne schimmerten immer noch wenige Zoll über Portias Kehle. Aber ihr hungriger Blick war auf etwas anderes gerichtet. Etwas hinter Portias linker Schulter.
Portia nutzte die Unaufmerksamkeit der Frau, drehte sich in ihren Armen um. Obwohl die kräftige Hand nach wie vor ihr Kinn umspannt hielt, hatte der Druck an ihrem Hals etwas nachgelassen.
Ein Mann kam über die Straßen zu ihnen. Nein, gar kein Mann, erkannte Portia, in deren Herz jäh Hoffnung aufflammte.
Julian schlenderte aus dem Nebel, als bliebe ihm noch eine Ewigkeit Zeit, sie zu retten, jede seiner Bewegungen voll männlicher Anmut. Das Licht der Straßenlaternen liebkoste die wie gemeißelten Knochen seines Gesichtes, und der Wind zauste sein dunkles Haar. Er sah aus wie ein gefallener Engel, der aus dem Himmel für eine Sünde verstoßen worden war, der er nicht hatte widerstehen können. Er hatte nie zuvor so gefährlich — oder so schön — ausgesehen wie in diesem Moment. Portia sackte gegen die Frau, unterdrückte ein erleichtertes Aufseufzen.
»Hallo, Liebling«, sagte er, als er sie erreichte, seine Stimme leise und seidenweich.
Portia öffnete den Mund zu einer Antwort, aber ehe sie etwas sagen konnte, schnurrte die Frau: »Hallo, mein Liebster. Du kommst gerade recht, um mir bei einem Mitternachtsimbiss Gesellschaft zu leisten.«
7
Obwohl ihr der Mund immer noch offen stand, konnte Portia kein Wort
Weitere Kostenlose Bücher