Wenn die Dunkelheit kommt
Bewohner hatte in der blutigen Mordnacht etwas Ungewöhnliches gehört. Nach weniger als einer halben Stunde hatten Jack und Rebecca ihre Ermittlungen beendet und standen wieder auf dem Gehsteig. Sie zogen die Köpfe ein, um dem Wind, der stetig stärker geworden war, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.
Die Schneeflocken fielen jetzt dichter. Die Straße war noch immer kahle r, schwarzer Asphalt, aber bald würde sie mit einer frischen, weißen Haut prunken.
Jack und Rebecca gingen zurück zu Vastaglianos Haus und hatten es fast erreicht, als jemand sie anrief. Jack drehte sich um und sah Harry Ulbeck, den jungen Beamten, der vorher auf Vastaglianos Eingangsstufen Wache gehalten hatte; Harry beugte sich aus einem der drei Schwarzweißen, die am Randstein parkten. Er sagte etwas, aber der Wind zerriß seine Worte zu bedeutungslosen Lauten. Jack ging zum Wagen, beugte sich zum offenen Fenster hinunter und sagte: »Entschuldigen Sie, Harry, ich habe Sie nicht verstanden.« Dabei dampfte ihm der Atem in kalten, weißen Schwaden aus dem Mund.
»Kam gerade über Funk«, sagte Harry. »Sie sollen sofort kommen. Sie und Lieutenant Chandler.«
»Weshalb sollen wir kommen?«
»Sieht so aus, als hätte es mit dem Fall zu tun, an demSie arbeiten. Es hat noch mehr Morde gegeben. Ähnlich wie diese hier. Vielleicht noch schlimmer... noch blutiger.«
5
Die Augen waren ganz anders, als Augen sein sollten. Sie sahen eher aus wie Schlitze in einem Ofengitter, die einen kurzen Blick auf das Feuer dahinter freigaben. Ein silberweißes Feuer. Diese Augen hatten keine Iris, keine Pupillen wie menschliche und tierische Augen. Da war nur die ses wilde Leuchten, das weiße Licht aus dem Inneren heraus, pulsierend und flackernd.
Das Geschöpf auf der Treppe kroch von der letzten Stufe herunter auf den Kellerboden. Es schob sich auf Penny zu, blieb dann stehen und starrte zu ihr hinauf.
Sie konnte jetzt keinen einzigen Zoll mehr zurückweichen. Schon jetzt drückte eine der Metallverstrebungen schmerzhaft gegen ihre Schulterblätter.
Plötzlich merkte sie, daß die Musik aufgehört hatte. Im Keller war es still. Es war schon seit einiger Zeit still. Vielleicht eine halbe Minute. Starr vor Entsetzen hatte sie nicht sofort reagiert, als >Frosty the Snowman< zu Ende war.
Verspätet öffnete sie den Mund und wollte um Hilfe schreien, aber da setzte das Klavier wieder ein. Diesmal war es >Rudolph the Red-Nosed Reindeer<, und das war noch lauter als das erste Lied.
Das Wesen am Fuß der Treppe fuhr fort, sie anzustarren, und obwohl seine Augen ganz anders waren als die eines Tigers, wurde sie dennoch an das Bild eines Tigers erinnert, das sie in einer Illustrierten gesehen hatte. Die Augen auf diesem Foto und die seltsamen Augen hier sahen sich absolut nicht ähnlich, und doch hatten sie etwas gemeinsam: es waren Raubtieraugen.
Rechts von ihr begannen sich die anderen Geschöpfe im Keller zu regen, fast gleichzeitig, und alle hatten sie dasselbe Ziel.
Sie fuhr zu ihnen herum, ihr Herz raste, der Atem stockte ihr in der Kehle.
Am Leuchten der Silberaugen konnte sie erkennen, daß sie von den Regalen herunterkamen, auf denen sie gehockt hatten.
Jetzt holen sie mich.
Die beiden auf dem Arbeitstisch sprangen auf den Boden.
Penny schrie, so laut sie konnte.
Die Musik hörte nicht auf. Kam nicht einmal aus dem Takt. Niemand hatte sie gehört. Bis auf das eine Geschöpf am Fuß der Treppe hatten sich
alle zusammengerottet. Ihre lodernden Augen sahen aus wie funkelnde Diamanten auf schwarzem Samt.
Keines kam näher. Sie warteten.
Sie wandte sich wieder der Treppe zu.
Jetzt bewegte sich auch die Bestie am Fuß der Treppe.
Aber sie kam nicht auf sie zu. Sie flitzte in den Keller und schloß sich ihren Artgenossen an. Die Treppe war frei, wenn auch dunkel. Das ist nur ein Trick. Soweit sie sehen konnte, würde sie nichts daran hin dern, die Treppe hinaufzusteigen, so schnell sie konnte. Es ist eine Falle. Die flackernden, eisweißen Augen beobachteten sie. Mrs. March hämmerte auf das Klavier ein. Die Kinder sangen. Penny sprang mit einem Satz von den Regalen weg, stürzte zur Treppe und rannte hinauf.
Auf jeder Stufe rechnete sie damit, daß die Dinger sie in die Fersen beißen, sich an ihr festkrallen und sie hinunterziehen würden. Einmal stolperte sie, wäre beinahe gefallen, erwischte dann aber mit ihrer freien Hand das Geländer und lief weiter. Die oberste Stufe. Der Treppenabsatz. Im Dunkeln nach dem Türknopf tasten.
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