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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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essen hab.«
    »Gütiger Himmel, du könntest auch Ärztin werden. Oder Senatorin«, erklärte Tante Merilyn.
    Natürlich machte sie nur Scherze. Aber es war so, dass ich gar keine Ärztin werden wollte. Ich wollte auch nicht an irgendeinem fernen exotischen Ort leben oder etwas Außergewöhnliches tun. Aber ich wollte auch nicht das, was ich von hier kannte. Ich wollte nicht meine letzte Kraft einem Mann und einem Haus voller Kinder opfern und keine Zeit für meine eigenen Freuden haben. Ich wollte, dass für mich selbst etwas übrig blieb. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, was es zwischen dem Außergewöhnlichen und Carbon Hill gab.
     
    Tess
    Da ich inzwischen Lou Ellen als Freundin hatte, war es leichter für uns, Tante Lou zu treffen – meiner Meinung nach unsere Brunnenfrau. Ich konnte Lou Ellen natürlich nicht sagen, warum wir ihre Tante besuchen wollten. Also behauptete ich einfach, dass es sich für Nachbarn so gehören würde. Nun standen wir also vor ihr, begrüßten sie und saßen dann eine Weile da und fühlten uns unwohl. Lou Ellen redete, während Tante Lou auf ihrem Schaukelstuhl saß und kaum ein Wort von sich gab. Schließlich – nachdem eine halbe Ewigkeit vergangen zu sein schien – meinte Lou Ellen: »Ich muss jetzt ein paar Sachen machen. Wollt ihr mitkommen?«
    Darauf hatten wir gewartet. Lou Ellen saß zum Glück nie lange still.
    »Ne«, erwiderte ich. »Wir bleiben noch ein bisschen hier und kommen dann nach.«
    Einen Moment lang rührte sie sich nicht von der Stelle, sondern neigte nur den Kopf zur Seite. Offensichtlich war sie verwirrt, wusste aber nicht, was sie in Gegenwart ihrer Tante sagen sollte. »Wirklich?«
    »Ja, wirklich«, erwiderte Virgie.
    Lou Ellen verließ langsam das Zimmer, als wollte sie uns noch Zeit geben, unsere Meinung zu ändern. Ich konnte sie verstehen. Ich hätte es sicher auch seltsam gefunden, wenn eine meiner Freundinnen gekommen und dann nicht zu mir, sondern zu Tante Celia gewollt hätte. Na ja, vielleicht hätte ich das nicht ganz so seltsam gefunden. Tante Celia war zumindest deutlich unterhaltsamer, als diese Tante Lou es zu sein schien.
    Endlich sprang Lou Ellen die Stufen vor dem Haus hinunter, und Virgie, Tante Lou und ich saßen einander im finsteren Wohnzimmer der Talberts gegenüber. Tante Lou hatte Kaffee gemacht, war aber nicht auf die Idee gekommen, uns auch etwas zu trinken anzubieten. Das störte uns jedoch nicht weiter.
    Eine Weile konnte man nur das leise Klappern von Tante Lous Löffel hören, als sie den Kaffee umrührte. Schließlich fragte Virgie: »Wie gefällt es Ihnen denn bisher so in Carbon Hill, Miss Lou?«
    »Ganz gut.«
    »Wir freuen uns, dass Sie hierher gezogen sind. Ich bin mir sicher, dass Lou Ellen auch froh ist, weil Sie jetzt bei ihr wohnen.«
    Als Tante Lou nicht antwortete, warf mir Virgie einen auffordernden Blick zu, als wollte sie mir bedeuten, dass ich mich gefälligst auch etwas anstrengen könnte. Also sagte ich: »Ich wette, dass Sie allen eine große Hilfe sind. Ich würd mich jedenfalls freuen, wenn meine Tante Celia oder meine Tante Merilyn öfters bei uns wären.«
    Auch jetzt antwortete sie nicht. Sie sah uns noch nicht einmal an, ja, hatte uns kaum eines Blickes gewürdigt, seitdem wir hereingekommen waren. Sie hatte weder gelächelt noch gegähnt noch die Nase gerümpft oder sich über die Lippen geleckt. Sie hatte ein unscheinbares, blasses Gesicht, das es sich aber lohnte, genauer zu betrachten, weil es so erstarrt wirkte. Hier und da schaute sie aus dem Fenster auf die Felder hinaus, aber vor allem sah sie auf ihren Schoß. Ihre Schultern waren ein wenig nach vorn gesackt, und die Knie hielt sie nicht ganz zusammengepresst, so dass sich ihr Kleid mit den rosa Blümchen zwischen ihren Beinen dehnte. Mama hatte uns beigebracht, immer mit übereinandergeschlagenen Fesseln dazusitzen. Aber da das unbequem war, konnte ich Tante Lou gut verstehen, wenn sie sich nicht daran hielt.
    »Sie haben bestimmt von dem Baby gehört, das in unseren Brunnen geworfen wurde«, sagte Virgie.
    Ich war froh, dass sie nicht länger um den heißen Brei herumredete. Wir hatten, ehe wir herkamen, beschlossen, dass Virgie die Sprache darauf bringen sollte und wir dann sehen würden, was Tante Lou dazu zu sagen hatte. Wir dachten, wir würden schon merken, ob sie etwas wusste oder nicht.
    Tante Lou rührte weiterhin in ihrem Kaffee. Er dampfte schon lange nicht mehr.
    »Natürlich weiß Sheriff Taylor, dass das Baby …

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