Wenn Die Nacht Anbricht
dass es nicht mehr gelebt hat, als es in den Brunnen kam«, fügte Virgie hinzu. »Es ist also kein Verbrechen gewesen. Was die Frau gemacht hat, mein ich. Es war nicht gegen das Gesetz oder so.«
Nichts. Ihre versteinerte Miene blieb regungslos.
»Aber wir würden einfach gern wissen, wer’s war«, fuhr Virgie fort. »Tess hat lange schreckliche Albträume gehabt, und wir haben jetzt monatelang drüber nachgedacht. Wir möchten, dass das Kind einen Namen hat, um unseren Frieden zu machen, verstehen Sie?«
Noch immer nichts. Ich nahm nicht an, dass sie jemals einen Schluck von dem Kaffee trinken würde.
»Haben Sie das Baby in unseren Brunnen geworfen?«, fragte ich schließlich.
Virgie trat mit dem Fuß nach mir, aber Tante Lou blickte endlich auf. Zum ersten Mal sah sie uns direkt an. Sie schien nicht im Geringsten beleidigt zu sein.
»Hm?«, murmelte sie und runzelte die Stirn. Für eine derart große Frau hatte sie eine merkwürdig leise Stimme – mehr wie die Stimme eines Mädchens, hoch und dünn.
»Das Baby«, sagte ich so langsam wie möglich. »Haben Sie es in unseren Brunnen fallen lassen?« Als Virgie in meine Richtung mit den Augen rollte, fügte ich hinzu: »Ma’am.«
»Du bist beim Gottesdienst nach vorn gekommen«, sagte Tante Lou schließlich zu mir. »Mit dieser netten Frau.«
»Ja, Ma’am. Ich habe Sie in der Baptisten-Laube gesehen. Sie waren ganz durcheinander. Als ob Ihnen was auf der Seele lasten würde.«
Wieder begann sie, in diesem Kaffee zu rühren, als wäre die schwarze Brühe interessanter als unsere Anschuldigungen.
»Dann waren Sie beim Gottesdienst also ganz durcheinander, Miss Lou – nicht wahr?«, fragte Virgie mit betont lieber Stimme.
Der Kaffeelöffel hörte auf, sich zu bewegen, und wieder war die kindliche Stimme zu hören. »Ich wollte um Vergebung bitten. So wie alle, die den Ruf gespürt haben.«
»Es ist schon in Ordnung, wenn Sie das Baby hineingetan haben.« Ich bemühte mich, so sanft und leise zu sprechen, wie wenn wir versuchten, ein Fohlen mit einer Karotte anzulocken. »Wir sind nicht wütend. Wir möchten’s nur gern wissen.«
»Ich würd meinen kleinen George doch nicht in einen Brunnen werfen«, sagte sie.
»Wer ist George?«, fragte ich.
»Ich hab’s niemand erzählt.«
»Wir werden’s nicht verraten«, erwiderten ich und Virgie wie aus einem Mund.
Tante Lou blickte zuerst zur Tür und dann in Richtung Küche. Schließlich legte sie die Hand, mit der sie nicht die Kaffeetasse hielt, auf ihren Bauch. Ich hatte Frauen gesehen, die das taten, wenn sie schwanger waren.
»Ist sowieso egal. Es frisst mich von innen her auf … Könnte ganz guttun, wenn es endlich mal rauskommt«, sagte sie und strich sich mit kreisenden Bewegungen über den Unterleib.
Wir rutschten auf unseren Stühlen vor bis an die Kanten, während sie sich aus ihrem Schaukelstuhl erhob. Sie ächzte ein wenig und trat dann hinter die Stuhllehne, um ihre Hände darauf zu stützen. Einen Moment lang spielte sie mit einem kleinen Riss im Rohrgeflecht und bohrte so lange mit ihrem Finger hinein, bis ich am liebsten geschrien hätte. Durch das lange Warten wurde mein Mund ganz trocken.
»Mein George war ein Geheimnis«, sagte sie schließlich.
Dann wieder nichts. Noch mehr Bohren.
»Ein Geheimnis?«, fragte Virgie.
»Wirklich?«, meinte ich ermutigend und freundlich und gar nicht schockiert.
»Ich wusste lang nicht, dass ich ihn in mir trag«, begann sie erneut. »Aber damals hab ich allein gelebt, hat also nicht viel ausgemacht, als ich dicker wurde. Niemand hat’s bemerkt. Ich hab ihn selbst auf die Welt gebracht. Ich habe früher schon öfter zugesehen, wie Frauen die Nabelschnur selber durchtrennt haben.«
Sie hielt inne und neigte den Kopf zur Seite, wobei sie leise »Psst«-Laute von sich gab, als wären wir nicht da. »Fühlt sich gut an, die Worte endlich rauszulassen«, sagte sie. »Bisher hat mich nie jemand danach gefragt. Jedenfalls hab ich mich die ersten zwei Monate oder so um ihn gekümmert, ohne dass jemand auch nur ein Haar von ihm gesehen hätte. Ich wollte behaupten, ich habe ihn auf meiner Türschwelle gefunden, wenn ich ihn nicht länger geheim halten könnte. Aber eines Morgens lag er tot in seinem Bettchen. Im Haus war’s dann auf einmal sehr einsam, so voll von ihm. Also bin ich hierhergekommen.«
Sie war nicht verheiratet, deshalb hätte sie gar kein Baby haben sollen. Aber ich beschloss, diesen Punkt nicht zu erwähnen. Bisher hatte sie noch
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