Wenn Die Nacht Anbricht
Schwestern am liebsten, vor allem meine Tante Merilyn, die sich so bewegte, als würde sie immer tanzen. Sie konnte ein ganzes Haus mit ihrem Lachen und Reden und ihrem Flattern erfüllen, während es an Tante Celia weder etwas Zerbrechliches noch etwas Flatterndes gab. Ihr Verstand und ihr Mundwerk waren genauso scharf wie ihre Wangenknochen, und Tess saß da und starrte sie an wie eine Filmvorführung. Mich machte sie kribbelig. Ich blieb am liebstem außerhalb ihrer Reichweite. Einmal, als ich noch klein war, versteckte ich mich unter dem Bett, als sie zu Besuch kam.
Papa lehnte sich an die Hausmauer und stellte einen Fuß auf das Verandageländer.
»Der Sheriff ist gekommen«, erzählte er. »Hat sich’s angeschaut und es nach Jasper gebracht, damit Dr. Grisson einen Blick drauf werfen kann. Um sagen zu können, wie alt der Junge war und ob sie noch was rausfinden können.«
Wenn Papa die Tagesschicht arbeitete, kam er erst kurz vor oder nach Sonnenuntergang nach Hause. »Raus um sieben, rein um sechs«, erklärte uns Mama immer wieder, als wir noch klein waren und nicht wussten, wann er heimkam. Wenn er schließlich da und es noch etwas hell war, ging er entweder sofort in den Garten oder hinunter zur Farm, bis die letzten Sonnenstrahlen verschwunden waren. In den Gruben gab es in letzter Zeit weniger Arbeit, deshalb arbeiteten alle Kumpel weniger, und manche waren sogar ganz entlassen worden. Er war nicht mehr wie früher sechs Tage die Woche beschäftigt, sondern hatte manchmal sogar zwei oder drei Tage am Stück Zeit, um das Feld zu bestellen – was er auch getan hatte, als wir aus der Schule kamen. Er hatte uns nur kurz zugewunken, doch als Tante Celia eintraf, hörte er auf und kam zum Haus herüber, um sie zu begrüßen.
Sein graues Hemd war von der Arbeit auf dem Feld verschwitzt, während sich seine Nase und seine Wangen gerötet hatten. Wie Tante Celia bestand auch er nur aus Kanten. Seine Arme, sein Hals und seine Hände waren knochig und nicht weich. Manchmal stellte ich mir vor, wie Papa aufrecht stehen bleiben würde, selbst wenn der Berg einstürzte, weil er härter als der schwarze Diamant war. Mit seinem breitkrempigen Strohhut statt seiner Bergmannskappe sah er wie ein großer Schienennagel aus.
»Hast du eine Ahnung, wie alt er war?«, fragte Tante Celia und schnaubte dann, ehe er antworten konnte. »Du natürlich nicht, aber Leta? Eine Frau kann so was leicht schätzen.«
Papa warf einen Blick auf Tess und mich und runzelte die Stirn. »Nein, ging nicht. Nach dem Wasser sah er nicht mehr wie vorher aus. Auch kleiner als normal, als hätte er nicht genug zu essen bekommen. Kann man nie sagen, was so eine Mutter ihrem Kind alles angetan hat.«
Tess setzte sich auf Tante Celias Schoß, obwohl sie eigentlich schon zu groß dafür war, und schlang die Arme um ihren Nacken. »Ich träum immer wieder von ihm, Tante Celia.«
»Was träumst du?« Tante Celias Mund hörte zu kauen auf, als sie auf Tess herunterschielte.
»Ich seh seine kleinen Finger und Zehen, und manchmal glaub ich, dass er im gleichen Bett liegt wie ich.«
»Vor ein paar Tagen hast du das noch nicht gesagt«, meinte Papa, dessen Augenbrauen sich zur Nase hin zusammenzogen. »Kannst du immer noch nicht gut schlafen?«
»Doch, ich kann schlafen. Ich träum nur immer wieder schlecht. Sein Gesicht seh ich aber nie richtig.« Sie schmiegte sich in Tante Celias Armbeuge und sah dabei ziemlich albern aus, wie sie ihre Beine so in der Gegend herumbaumeln ließ. Sie blickte Tante Celia und nicht Papa oder mich an und fragte dann beinahe flüsternd: »Glaubst du, er kommt als Geist zu mir zurück?«
Tante Celia dachte nicht eine Sekunde lang nach. »Ne«, erwiderte sie trocken. Dann wandte sie den Kopf zur Seite. Ha-ick puh . »Warum soll er dir hinterherspuken? Er sollte lieber die Person erschrecken, die sich Frau nennt und ihn wie eine Maishülse weggeworfen hat.«
»Glaubst du an Geister?«, wollte ich wissen.
»Nicht an solche, Virgie May.« Ich heiße mit zweitem Vornamen Elaine.
»Ich lieg neben dir im Bett, Tess«, sagte ich. »Wenn ein Geist versucht, dich zu erschrecken, mach ich einfach kurzen Prozess mit ihm.«
Sie wirkte nicht überzeugt. »Und was ist, wenn es ein guter Geist ist?«
Papa trat zu ihr und legte ihr die Hand auf den Kopf. Er tröstete einen anders als Mama. Sie streichelte und tätschelte uns mit ihren Fingerspitzen, während er seine Hand nicht bewegte. Er legte sie auf unsere Köpfe, die
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