Wenn Die Nacht Beginnt
ob sie eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte. Sie neigte den Kopf zur Seite und grinste, als ob sie fragen wollte: »Von welchem Planeten kommst du denn, Junge?«
Der Knopf in der Mitte des Sitzpolsters schnitt in mein knochiges Hinterteil. Ich setzte mich etwas anders hin und fragte: »Was war das, was Ihr Bruder zurückgelassen hat?«
»Moment mal. Ich muss erst wissen, wie lange Sie glauben, dass es dauern wird, bis Sie ihn finden, bevor ich weiß, ob ich Sie mir leisten kann.«
»Ich verlange fünfundzwanzig Dollar die Stunde«, sagte ich und stützte die Arme auf den Knien ab. »Wenn es Ferngespräche, Faxe, Gebühren für Dokumente gibt, dann geht das extra.«
»Ich werd 'ne ganze Menge Nüsse für solche Summen kochen müssen. Also, wie viele Stunden meinen Sie?«
»Manchmal finde ich Leute in einer Stunde. Manchmal nie. Ich lege ein- oder zweimal die Woche – ganz wie Sie wünschen – Rechenschaft über meine Zeit ab. Sie können mir jederzeit sagen, dass ich aufhören soll.«
Ich glaube, den letzten Satz hatte sie gar nicht mehr gehört. Sie stützte ihren Ellbogen auf die Armlehne und rahmte die eine Seite ihres Gesichts mit dem Daumen und einem Finger ein. Die Schaukel trug sie zu mir, und dann wieder weg.
»Wenn ich mir's recht überlege, wird's nicht allzu lang dauern, bis Sie den Jungen finden. Bestimmt steckt er entweder seine Nase in Dinge, wo sie nicht hingehört, und hängt in Slick Willies Billardkneipe in Sugarland rum, oder …«
Ich wartete, die Hände über meinem Notizbuch gefaltet. Diese Frau brachte die Haare auf meiner Brust zum Knistern. Ich hörte zu, hörte gut zu, aber ich stellte sie mir im Haus vor, wie sie mich zum Tee einlud.
»Oder er schwimmt mit den Schildkröten im Altwasser«, meinte sie und spielte mit dem Seil, das an der Schaukel befestigt war. »Er ist nur ein dummer Junge, Mr. Cisroe. Er hält sich für Eddie Murphy. Aber ich mache mir um seinen törichten Kopf Sorgen.«
Minnie Chaundelle ging hinein, um das zu holen, was ihr Bruder ihr gegeben hatte. Sie wandte sich zu mir um und fragte mich, ob ich gern Tee hätte. Einfach so – ob ich gern Tee hätte. Aber für mich war noch nicht der rechte Zeitpunkt gekommen, um einen anderen Ton anzuschlagen, und ich sagte ganz neutral und anständig ja.
Ich saß auf der Veranda und dachte über das nach, was ich durch mein Telefongespräch mit Stinger Gazway bereits über Minnie Chaundelle wusste. Stinger kommt überall herum im vierten und fünften Bezirk. Wenn irgendjemand irgendetwas über irgendjemanden weiß, dann er. Er erzählte mir, Minnie sei vor sechs Jahren mit einem Mann namens Sparrel Bazile verheiratet gewesen und hatte ihn ein Jahr später begraben müssen. Sparrel war immer um zwei Uhr nachts von der Arbeit heimgekommen, so wie ein Betrunkener, der von einer Party heimkam.
Während ich auf Minnies's Veranda saß und wartete, zogen von Süden her dunkle Wolken auf. Die Luft war zum Schneiden. Ich lockerte meinen Hemdkragen. Zwei weiße Frauen, etwas seltsam gekleidet, gingen Händchen haltend vorbei. Ihre Brillen saßen weit vorn auf der Nase, ihr Haar war über der Stirn einfach grade abgeschnitten, und ich konnte erkennen, dass sie nicht sehr helle waren. Wahrscheinlich kamen sie von der Schule für die Zurückgebliebenen weiter vorn.
Minnie kam wieder mit zwei Gläsern Eistee auf einem Tablett mit hohem Rand und brachte Zucker, Zitrone, Löffel und Servietten von Sundsoburger mit. Sie zeigte mit dem Kopf auf ein Heft mit marmoriertem Einband, wie man sie für die Schule kauft, und sagte: »Hier«, und ich nahm es vom Rand des Tabletts.
Auf dem Etikett vorn stand oben Brickner Deposit , und unten ein Firmenname und eine Adresse in der Westschleife. Ich blätterte darin und sah mit der Maschine geschriebenen Text sowie Diagramme und Lagepläne. Schnell reimte ich mir zusammen, dass es etwas mit einem Bohreinsatz vor der Terrebonne-Bucht im Golf zu tun haben musste.
Minnie Chaundelle setzte das Tablett auf dem Postbehälter ab und fragte nach meinen Tee-Vorlieben, dann mischte und rührte sie. »Für einen Natur-Freak muss das was bedeuten«, sagte sie und sah auf das Heft, »aber nicht für mich.«
»M-hm«, sagte ich und mimte den Nachdenklichen. Ich nahm einen großen Schluck Tee, trank aber nicht aus, um ihr keine Umstände zu machen. Ich fragte, ob sie das Heft irgendjemandem gezeigt hatte, zum Beispiel dem Freund von ihr, der ihrem Bruder die Arbeit besorgt hatte.
»Verlyn sagte zu mir,
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