Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
keins.
Das Nachtglas. Nele konnte Seths Stimme, die den Namen der Schwärze aussprach, immer noch in sich nachklingen hören. Es war schwer, sich vorzustellen, dass dieser skurrile Raum wirklich in ihrem eigenen Kopf entstanden sein sollte. Keiner ihrer Träume, egal wie schrecklich sie waren, hatte bisher so ausgesehen, und es fühlte sich auch genauso an– fremd. Ganz wie in der Nacht zuvor…
Nele wickelte sich noch fester in ihre Decke, aber es half nicht viel. Dabei hatte sie doch nur beweisen wollen, dass sie es noch konnte: einen Traum fortsetzen, wie es ihr gefiel. Sie hatte Seth wiedertreffen wollen, diesen Jungen… Mann… dieses Wesen mit den goldenen Augen und der gläsernen Haut. Aus welcher verrückten Hirnwindung, welchem unterbewussten Salto von Neles Gedanken war er nur entsprungen? Und was tat er mit ihr? Es war das zweite Mal hintereinander, dass ihr ein Traum aus den Händen glitt, und zwar so endgültig, dass sie ihn nicht einmal vernünftig beenden konnte. Ja, dass sie wohl von Glück sagen musste, einfach herausgefallen zu sein. Und was für wirres Zeug dieser Seth erzählt hatte…
Nele legte die Hände vor ihr Gesicht und spürte, wie sich ihr eigener Atem beruhigend warm an ihren Wangen sammelte. Nur ganz allmählich gelang es ihr, sich wenigstens ein bisschen zu entspannen, bis sie es schließlich fertigbrachte, auf dem Nachttisch nach ihrem Handy zu tasten. Viertel vor sechs. Nele stöhnte tonlos. Was für eine unglaublich miese Zeit, um aufzuwachen. Viel zu früh, aber es lohnte sich auch nicht mehr, wieder einzuschlafen. Da war es wohl am klügsten, gleich wach zu bleiben und die zusätzliche Zeit für eine ausgiebige Dusche zu nutzen. Und die hatte sie nach dieser Nacht auch bitter nötig.
Eine gute Stunde später fühlte sich Neles Kopf dank der magischen Kraft fließenden Wassers immerhin nur noch so dezent matschig an, dass es für die Uhrzeit als normal gelten konnte. Sie war jetzt sogar ein bisschen spät dran. Aber das war es allemal wert gewesen. Auf ihrem Weg die Treppe hinunter hörte sie Stimmen, das Klappern von Messern, Geschirr und das Brodeln der Kaffeemaschine. Verwundert runzelte Nele die Stirn. So viel Leben am frühen Morgen?
Doch dann fiel es ihr wieder ein. Richtig, Paps flog ja heute zurück nach Prag. Für den Umzug nach Erlfeld hatte er ein paar Tage frei bekommen, aber jetzt musste er wieder an die Arbeit. Also war dies für eine ganze Weile die letzte Gelegenheit zu einem gemeinsamen Familienfrühstück. Kein Wunder, dass er so zeitig aufgestanden war, obwohl sein Flieger doch erst gegen Mittag ging.
Der Geruch von Kaffee und geröstetem Brot stieg Nele in die Nase und entlockte ihrem Magen ein energisches Grollen, als sie die Küche betrat.
»Guten Morgen, allerliebste Tochter«, sagte ihr Vater und musterte sie mit liebevollem Spott über den Rand seiner Zeitung hinweg.
»Morgen.« Nele schlurfte zum Tisch und ließ sich auf den Stuhl fallen, den sie irgendwann, wenn sie hier heimischer war, vermutlich als ›ihren‹ bezeichnen würde. Es war ungewohnt und schön, sich an einen gedeckten Tisch zu setzen, während Mommi bereits eine Tasse mit Kakao für sie in die Mikrowelle stellte. Vor allem nach so einer Nacht.
»Grazil und frisch wie eine Steineiche«, bemerkte Paps und grinste.
»Schlecht geschlafen«, murmelte Nele und angelte nach einer Scheibe Brot und der Margarinedose.
»Ist die Matratze nicht gut?«, fragte Mommi von der anderen Seite des Raumes her– etwas lauter als sonst, um die Mikrowelle zu übertönen. Sie hatte sich bereits bürofein gemacht und wirkte ein wenig gestresst.
Nele schüttelte den Kopf. »Die Matratze ist super«, sagte sie so beruhigend sie konnte. »Da war nur so ein riesiger Kater auf dem Balkon, ehe ich eingeschlafen bin. Der hat mich beobachtet. Wahrscheinlich habe ich davon blöd geträumt.«
Paps warf ihr einen schnellen Blick zu. Eine kleine Sorgenfalte war auf seiner Stirn erschienen. Rasch bemühte Nele sich um ein Lächeln, auch wenn sie sich, ehrlich gesagt, gar nicht so recht danach fühlte. Aber die Zeiten, wo sie Theater um Träume gemacht hatte, waren lange vorbei. Und auch wenn Paps sie ganz sicher verstanden hätte, wollte sie darüber jetzt nicht reden. Sie war immerhin kein kleines Kind mehr. Aber weil Mommi und Paps nichtsdestotrotz ihre Eltern waren, würden sie diese schrecklichen Nächte, in denen Nele aus lauter Angst vor ihren eigenen Träumen stundenlang wimmernd in ihrem Bett kauerte
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