Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
langsamer, ehe er nicht endlich die Haustür hinter sich ins Schloss geworfen hatte. Erst dann blieb er keuchend stehen und lauschte nervös darauf, ob die schweren Schritte seines Vaters im Treppenhaus zu hören waren. Aber alles war still. Zu still.
Nur langsam wich das Gefühl, von der eigenen Jacke erwürgt zu werden. Jaris Knie zitterten wie Wackelpudding, und am liebsten hätte er sich hingesetzt. Aber es war ganz bestimmt keine gute Idee, hierzubleiben. So nah bei seinem Vater, der sich jederzeit doch noch entscheiden konnte, die Wohnung zu verlassen und im Hof aufzutauchen. Erst jetzt begriff Jari wirklich, was gerade geschehen war. Er hatte sich schon oft mit seinem Vater gestritten, und es war auch nicht das erste Mal, dass er grob angefasst worden war. Aber die Gelegenheiten, zu denen sein Vater ihn schlug, und dann noch ins Gesicht, konnte er bisher an zwei Händen abzählen. Und noch nie war es so völlig ohne Vorwarnung passiert. Irgendetwas war verkehrt, absolut verkehrt.
Mühsam versuchte Jari, seinen zittrigen Atem zu beruhigen. Er war entkommen. Vorerst. Aber er ahnte, sollte er es heute noch einmal wagen, seinem Vater unter die Augen zu treten, stand ihm vermutlich die Hölle auf Erden bevor.
Auf dem Schulklo klatschte er sich mehrere Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Nicht dass er davon heute nicht schon ausreichend gehabt hätte. Seine Haare waren immer noch feucht, und er fror. Aber es beruhigte ihn ein wenig und sorgte zumindest dafür, dass seine Haut überall krebsrot war, nicht nur auf der linken Wange. Eine ganze Weile starrte er sich selbst im Spiegel an, bis er sich endlich überzeugt hatte, dass man von dem Schlag nichts bemerken würde. Sein Gesicht war nicht geschwollen, obwohl es sich so anfühlte. Immerhin etwas. Blieb nur zu hoffen, dass kein Bluterguss daraus werden würde. Jari wollte ums Verrecken nicht, dass irgendjemand ihm ansah, was gerade geschehen war.
Vor allem Nele nicht.
Als er in den Kursraum für Englisch kam, war sie schon da, saß genau dort, wo sie sich gestern auch hingesetzt hatte: auf dem vorletzten Stuhl vor dem Fenster in der hintersten Reihe. Jari konnte nicht anders, als zumindest ein bisschen in sich hineinzulächeln. Er verstand nicht ganz, warum sie so nett zu ihm war, obwohl sie ihn doch gar nicht kannte und er sich ihr gegenüber auch nicht gerade wie ein Ausbund an Freundlichkeit verhalten hatte. Ganz bestimmt hätte sie ohne Probleme im Handumdrehen andere Freunde finden können, so leuchtend bunt und herzlich, wie sie war. Warum auch immer sie trotzdem dort hinten saß, eine schillernd blaue Haarsträhne zwischen den Fingern zwirbelte und auf ihrem Stuhl kippelte– es tat Jari gut. Vor allem nach diesem furchtbaren Start in den Tag. Also kämpfte er den Fluchtimpuls nieder, der ihm befahl, so zu tun, als hätte er ihre Absicht nicht bemerkt, und setzte sich neben sie.
Ihre Augen leuchteten auf, als sie ihn bemerkte. »Guten Morgen!«
»Hi.« Jaris Wange schmerzte, als er etwas offensichtlicher zu lächeln versuchte. Vielleicht war sie doch ein wenig angeschwollen. Langsam legte er seine Tasche auf den Tisch und begann, seine Englischsachen herauszuräumen, während er wartete, ob Nele etwas dazu sagen würde. Ob ihr trotz aller Mühen doch etwas auffiel.
Sie hatte aufgehört, mit dem Stuhl zu kippeln, und die Augen ein wenig verengt. Aber sie schwieg. Sehr zu Jaris Erleichterung.
»Danke wegen gestern«, sagte er, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Neles Brauen hoben sich überrascht. »Für die Schokolade?«
Jari grinste ein wenig angestrengt und hob die Schultern. »Für alles, irgendwie.« Und vor allem dafür, dass sie sich trotz seines ruppigen Abschieds dazu entschieden hatte, heute wieder neben ihm zu sitzen, dachte er. Aber das so deutlich auszusprechen, brachte er nicht fertig. Es fühlte sich an, als würde er damit etwas sagen, was er so gar nicht meinte. Zumindest glaubte er, dass er es nicht so meinte. So etwas konnte man ja schließlich gar nicht meinen, wenn man erst fünf Sätze miteinander gewechselt hatte…
An dieser Stelle begannen seine eigenen Gedanken ihn zu verwirren. Er räusperte sich und spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, bis sie sich heiß, geradezu fiebrig anfühlten. Unbehaglich fuhr er sich mit den Fingern durch die feuchten Haare und neigte sich zu Nele hinüber, während er noch versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
»Und wenn du irgendetwas über eine dieser Gestalten hier
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