Wenn Die Seele Verletzt Ist
zu drücken? Oder können Erlebnisse so schrecklich sein, daß sie auch psychisch stabile Menschen ernsthaft verletzen?
Gibt es überhaupt „echte“ psychische Symptome?
Seit sich Ärzte mit der Psyche beschäftigen, ist das Trauma und seine Auswirkungen eines der wichtigsten Forschungsgebiete. Schon 1878 stellten die französischen Psychiater Briquet und Tardieu, die am berühmten Pariser Krankenhaus Salpetrière arbeiteten, einen direkten Zusammenhang zwischen Kindheitstrauma und Hysterie fest. Damals wurde auf Grund einer Studie an über 500 Kindern der sexuelle Mißbrauch als Ursache für psychische Symptome erkannt. Etwa 10 Jahre später – 1889 – entwickelte Pierre Janet eine Traumalehre, in der er die Ergebnisse der modernen Bewußtseins- und Gedächtnisforschung vorwegnahm. Janets Traumakonzept gilt noch heute als Grundlage vieler Traumatherapien. Das Konzept basiert auf folgenden, der Systemischen Psychotherapie verwandten Grundsätzen:
• Das Bewußtsein des Menschen besteht aus verschiedenen Aspekten, die bei der gefestigten Persönlichkeit in gutem Austausch miteinander stehen.
•Es gibt schockartige Ereignisse – misère psychologique –, die die Psyche des Menschen überfordern, das Erlebnis zu integrieren.
•Die belastende Erfahrung wird auf Grund der Überlastung nicht ins allgemeine Bewußtsein aufgenommen, sondern abgespaltet – dissoziiert.
• Dissoziierte (abgespaltene, verdrängte) Erfahrungen äußern sich später in Form von psychischen und/oder körperlichen Symptomen.
Janet glaubte, daß nicht etwa Defizite in der Persönlichkeit des Patienten für seine Symptome verantwortlich seien, sondern traumatische Erlebnisse, die den Betroffenen völlig überforderten. Um das Erlebnis aufzuarbeiten, versuchte er deshalb, Zugang zu den Anteilen des Menschen zu erhalten, die das verdrängte Trauma gespeichert hatten, um diese wieder bewußt zu machen. Gelang es in der Therapie, die gesunden Anteile mit den traumatisierten zu verbinden, war die Integrität der Persönlichkeit wieder hergestellt und die Symptome verschwanden. Genau das ist das Anliegen vieler moderner Traumatherapien.
Auch Sigmund Freud, der seine Lehrjahre an der Salpetrière verbrachte, wies auf den Zusammenhang von sexuellem Mißbrauch im Kindesalter undeiner späteren Psychoneurose hin. Noch 1896 formulierte er in seiner „Neurosenlehre“, „daß das Erleben einer sexuellen Beziehung im Kindesalter, die aus sexuellem Mißbrauch durch eine andere Person resultiert“ (Freud, S.417), und die nachfolgende völlige Verdrängung dieses Traumas die Ursache der Hysterie bei Erwachsenen sei. Dies löste jedoch einen Sturm der Empörung unter den Wiener Kollegen aus, so daß Freud, der um seine Praxis fürchten mußte, seine Erkenntnis 1899 wieder verwarf. Die Erinnerungen seiner erwachsenen Patienten an sexuellen Mißbrauch verlegte er kurzerhand in den Bereich der Phantasie und entwickelte die Lehre vom Ödipuskomplex. Welche Auswirkungen der Widerruf Freuds auf wahrscheinlich Millionen von Patientinnen hatte, werden wir später genauer beleuchten. Auch der Schweizer Psychiater Edouard Stierlin befaßte sich mit dem Thema Trauma. Er war einer der ersten, der in einer Untersuchung, die auch heutigen wissenschaftlichen Kriterien standhält, den unmittelbaren Zusammenhang von Katastrophen und psychischen Symptomen der Betroffenen erfaßte. Er untersuchte die Opfer von Erdbebenkatastrophen und wies darauf hin, daß diese schlimmen Ereignisse bei einer Vielzahl der Betroffenen Symptome ausgelöst hätten, die auch Jahre nach dem Unglück weiter fortbestünden. Er betonte, daß bei keinem der Betroffenen vor den Katastrophen eine besondere psychische Prädisposition, also eine besondere Labilität, festgestellt worden sei. Damit bewies er sozusagen, daß die Symptomatik durch das Trauma der Naturkatastrophe ausgelöst worden war. Er zeigte sich besorgt darüber, daß Ärzte sich nicht genügend darüber bewußt seien, daß traumatische Erlebnisse langwierige psychische Probleme verursachen könnten. Die Gefahr sei, daß die Betroffenen der Simulation bezichtigt würden.
Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß das Wissen von Janet und Stierlin schon seit etwa 115 Jahren zur Verfügung steht, kommen wir nicht darum herum, den gesellschaftlichen und/oder politischen Gründen für die Traumaamnesie der Psychiatrie in Deutschland nachzugehen. Sowohl gesellschaftlich wie politisch gab es gute Gründe zu leugnen, daß
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