Wenn Die Wahrheit Stirbt
»Mami braucht jemanden, der ihr in der Küche hilft, Schatz. Es ist so heiß - sollen wir was Kühles zu trinken machen, was meinst du?«
Holly ging bereitwillig mit ihr; nur ein Mal sah sie sich nach ihrer Spielkameradin um, bevor sie im Haus verschwand.
»Müssen Sie es ihr sagen? Das mit ihrem Vater?«, fragte Gemma die Sozialarbeiterin mit gedämpfter Stimme.
»Ich fürchte, ja.« Silverman trat auf Charlotte zu und ging
neben ihrer Schaukel in die Hocke. Gemma war ihr gefolgt. »Charlotte, ich bin Miss Janice. Ich kümmere mich in der nächsten Zeit um dich.«
Charlotte rutschte von ihrer Schaukel. Den Daumen im Mund, blickte sie mit großen Augen von Silverman zu Gemma.
»Dein Papa hat einen Unfall gehabt, Charlotte«, fuhr Silverman mit sanfter Stimme fort. »Er wurde verletzt, und er ist gestorben. Das heißt, dass jemand anderes ab jetzt für dich sorgen wird. Ich habe eine ganz liebe Freundin, bei der du wohnen kannst. Da kann dir nichts passieren.«
Zögernd nahm Charlotte den Daumen aus dem Mund. »Will aber nicht«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf. »Ich will meinen Papa.«
»Dein Papa kommt nicht mehr nach Hause, Charlotte. Es tut mir leid.«
»Meine Mami kommt aber wieder nach Hause«, behauptete Charlotte voller Überzeugung.
Silverman sah Gemma an und sagte dann: »Nun, das kann schon sein. Aber im Moment ist deine Mama nicht zu Hause, und darum musst du bei jemand anderem wohnen. Lass uns doch -«
»Will meinen Papi!« Charlottes Protestschrei endete in einem Schluchzer, und als Silverman die Hände nach ihr ausstreckte, warf sie sich an Gemmas Brust.
Gemma nahm Charlotte in den Arm, und als sie den Kopf des Mädchens an ihre Schulter bettete, spürte sie ihre heißen Tränen auf der Haut. Das Kind roch nach frisch gemähtem Rasen und ein wenig nach Schokolade. »Du bist ein ganz lieber Schatz, hm?«, sagte Gemma und drückte Charlotte fester an sich. Plötzlich konnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass dieser kleine Engel in die Hände eines wildfremden Menschen gegeben werden sollte.
»Hören Sie, Mrs. Silverman«, sagte sie, »könnte ich sie nicht
nehmen? Ich bin Polizeibeamtin. Ich habe zwei Söhne, und mein … Lebensgefährte« - sie hatte schon mein Mann sagen wollen, als ihr einfiel, dass sie das ja nicht konnte, jedenfalls noch nicht - »mein Lebensgefährte und ich könnten uns um sie kümmern, bis alles geregelt ist.«
»Es ist nicht zu übersehen, dass sie eine gewisse Zuneigung zu Ihnen gefasst hat. Haben Sie schon einmal ein Kind in Pflege gehabt?«
»Das nicht, aber -«
Silverman schüttelte den Kopf. »Dann sind Sie nicht in der Datei. Es tut mir leid, aber Sie müssten zuerst beurteilt werden, und wir brauchen jemanden, der sie sofort nehmen kann. Ich werde nur rasch -«
»Warten Sie«, rief Gemma. Sie hatte plötzlich eine Eingebung. »Ich kenne jemanden. Lassen Sie mich nur eben schnell telefonieren.«
»Ich habe eine Freundin«, erklärte Gemma, nachdem sie die immer noch schluchzende Charlotte unter gutem Zureden auf Tims Schoß verfrachtet hatte. »Sie hat früher schon Kinder in Pflege gehabt. Falls sie einverstanden ist - wäre das akzeptabel?«
»Wenn sonst alles in Ordnung ist«, antwortete Silverman vorsichtig. »Ich müsste selbst mit ihr sprechen und eine Überprüfung veranlassen.«
»Ich bin sicher, dass sie die bestehen würde. Sie ist die Mutter eines Freundes, der manchmal auf unsere Kinder aufpasst. Sie kommt ganz fantastisch mit ihnen klar.« Gemma war sich bewusst, dass sie zu viel erklärte und dass sie damit mindestens ebenso sehr ihre eigenen Bedenken wie die Silvermans zu zerstreuen suchte. Sie entschuldigte sich und ging zum hinteren Ende des Gartens, um zu telefonieren.Von dort blickte sie über die Garagenwohnung hinweg und drückte die Daumen, während es läutete.
Als sie Betty Howards fröhliche Stimme hörte, die auch nach vierzig Jahren in Notting Hill ihren westindischen Akzent noch nicht verloren hatte, atmete sie erleichtert auf. »Betty, ich bin’s, Gemma. Ich muss dich um einen Gefallen bitten.« In möglichst knappen Worten erläuterte sie die Situation.
»Oh, das arme Kind«, rief Betty. »Ich würde sie liebend gerne nehmen. Das Problem ist nur, dass ich noch die Kostüme für den Karneval fertigmachen muss -«
»Wir könnten dir helfen«, erbot sich Gemma. Betty nähte schon seit den Siebzigerjahren aufwendige Kostüme für den Notting Hill Carnival, und Gemma wusste, wie zeitraubend diese Arbeit war.
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