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Wenn Die Wahrheit Stirbt

Titel: Wenn Die Wahrheit Stirbt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie , Andreas Jäger
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Spitalfields Zuflucht vor der Verfolgung im katholischen Frankreich gesucht hatten. Eine Zeitlang hatten die Geschäfte der Weber floriert; das Rattern ihrer Webstühle hatte die weitläufigen Dachböden erfüllt, während die Frauen in ihren Kleidern aus glänzendem Taft sich auf den Veranden versammelten. Ihre Kanarienvögel sangen dazu in den Käfigen, die die feinen Damen als Statussymbole bei sich trugen.
    Aber dann bedrohte die billig aus Indien importierte Baumwolle die Existenz der Weber, und die Erfindung des mechanischen Webstuhls versetzte ihrem Gewerbe den Todesstoß. Neue Wellen von Einwanderern waren auf die Hugenotten gefolgt - Juden, Iren, Bangladeschis und Somalis -, doch an den wirtschaftlichen Erfolg der Hugenotten hatten sie alle nicht anknüpfen können. Und so waren deren Häuser langsam, aber sicher verfallen.
    Bis heute. Trotz der Rezession wuchs die City unaufhörlich weiter nach Osten, streckte bereits ihre Finger nach Spitalfields aus und brachte eine neue Welle von Einwanderern mit sich. Nur dass es sich bei diesen Immigranten um Yuppies mit fetten Brieftaschen handelte, die sich die Wohn- und Lagerhäuser des alten East End unter den Nagel rissen und die einkommensschwächeren Bewohner verdrängten. Denn die Gegenwart ließ sich nicht ohne die Vergangenheit denken und die Vergangenheit nicht ohne die Gegenwart. So war es immer gewesen,
und es kam Sandra vor, als gelte dies ganz besonders für das East End, wo die Jahre sich Schicht um Schicht übereinanderlegten wie die Stoffe auf ihrem Rahmen.
    Sandra seufzte und rieb das Stück pfauenblauen Taft zwischen den Fingern, während sie überlegte, welchen Platz es im Gesamtentwurf ihrer Collage einnehmen sollte. Veränderungen waren unvermeidlich, dachte sie. Sie hatte inzwischen Freunde auf beiden Seiten der ökonomischen Kluft - und wenn sie es jemandem verdankte, dass sie als Künstlerin ihren Lebensunterhalt verdienen konnte, dann waren es diejenigen am oberen Ende der Einkommensskala.
    Ihr Blick ging zu dem Berg von Stofffetzen unter dem Flügelfenster des Speichers. Charlotte hatte sich in den Haufen aus Seide und Tüll gekuschelt, angezogen von dem wärmenden Sonnenlicht wie eine Katze. Dorthin hatte sie sich verzogen, nachdem ihr die ausgedehnte, einseitige Unterhaltung mit ihrem Lieblings-Stoffelefanten irgendwann langweilig geworden war - mit Puppen konnte Charlotte nichts anfangen, genauso wenig wie damals ihre Mutter.
    Und ihre kleine Tochter war auch anmutig wie eine Katze, dachte Sandra - selbst wenn sie so mit dem Daumen im Mund schlief. Mit ihren zweieinhalb Jahren war Charlotte eigentlich fast schon zu alt, um noch am Daumen zu lutschen, aber es widerstrebte Sandra, ihrem frühreifen Kind auch noch diese letzte beruhigende Angewohnheit aus ihren Babytagen zu nehmen.
    Sandras Frust über die unvollendete Collage war für den Augenblick vergessen, als sie sich spontan einen Skizzenblock und einen Bleistift vom Werktisch griff und rasch die Umrisse des Stoffbergs skizzierte, die Scheiben des Speicherfensters, die geschwungene Linie von Charlottes kleinem Körper in Latzhose und T-Shirt, das zarte, leicht stupsnasige Gesichtchen, umrahmt von der üppigen karamellfarbenen Lockenpracht.
    Die Skizze schrie geradezu nach Farbe, und Sandra tauschte ihren HB-Bleistift gegen eine Handvoll Buntstifte ein, die sie aus einem angestoßenen Becher fischte - ein Souvenir zum silbernen Thronjubiläum
der Queen, das sie auf dem Flohmarkt ergattert und wegen des falsch geschriebenen Namens des Herzogs von Edinburgh als Kuriosität aufgehoben hatte.
    Rot für die Latzhose, Rosa für das T-Shirt, leuchtende Blau- und Grüntöne für die wallenden Seidenstoffe, ein warmes Braun für das glänzende Parkett.
    Gedankenverloren wandte sie sich wieder der Seide zu, versuchte die verschwommene Erinnerung an ein kompliziertes Seidenmuster, das sie irgendwo gesehen hatte, auf das Papier zu übertragen. Es war Sari-Seide gewesen - wie die, die den Boden ihres Ateliers bedeckte, jedoch mit einem ungewöhnlichen Muster: winzig kleine Vögel, von Hand in den apfelgrünen Stoff gewebt. Sie hatte das Mädchen, das den Sari trug, gefragt, woher sie ihn habe, und die Kleine hatte leise und in stockendem Englisch geantwortet, dass ihre Mutter ihn ihr geschenkt habe. Doch als Sandra sie gefragt hatte, ob ihre Mutter den Stoff hier in London gekauft habe, war das Mädchen verstummt und hatte verängstigt gewirkt, als fürchtete sie, etwas Verbotenes gesagt zu haben.

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