Wenn Die Wahrheit Stirbt
werden sollte. »Mal sehen, wann ich ihn einschieben kann«, sagte er zu Weller, als sie zur Straße zurückgingen.
»Falls du noch irgendwelche alte Damen hast, die von ihren Katzen angefressen wurden, kannst du die ja solange ins Kühlfach schieben«, meinte Weller und klopfte ihm auf die Schulter.
»Danke für den Tipp, Inspector, aber ich habe durchaus meine Prioritäten«, konterte Kaleem. »Ich rufe Sie an, sobald ich meinen vorläufigen Bericht fertig habe.« Dann schenkte er Gemma noch ein strahlendes Lächeln und trabte über die Audrey Street davon. Mit seinem Koffer in der Hand schlüpfte er durch die Polizeiabsperrung und verschwand um die Ecke.
»Sie beide kennen sich wohl schon länger?«, fragte Gemma Weller, verwundert über den vertraulichen und zugleich rauen Ton ihres Wortwechsels.
»Rotznasiger kleiner Bangladeschi aus einer Sozialsiedlung«,
knurrte Weller, während er ihm nachblickte. »Ich hab mir damals immer die jungen Burschen vorgeknöpft, die ihn schikanierten, wenn ich in der Gegend auf Streife war. Da hat er wohl angefangen zu glauben, er wär’ was Besseres.« Der Ton, in dem er das vorbrachte, war jedoch herzlich, und Gemma glaubte zum ersten Mal den Anflug eines Lächelns auf Wellers Zügen zu erkennen. »Wer hätte gedacht, dass der Kerl es mal zum Rechtsmediziner bringen würde? SeinVater hat ihn jedes Mal windelweich geprügelt, wenn er ihn mit einem Buch erwischte, und seine Mutter hat nie Englisch gelernt. Rashid hat praktisch in der Bücherei von Whitechapel gewohnt - im ›Ideenladen‹, wie sie das Ding heute nennen«, setzte er mit verächtlichem Schnauben hinzu. »Und sein Medizinstudium hat er sich mit Taxifahren finanziert. Sein Alter dreht sich bestimmt im Grab rum.«
»Warum wollte sein Vater nicht, dass er liest?«
»Strenggläubiger Muslim. Er dachte, alles andere als der Koran würde den Jungen verderben. Ein richtiger Kotzbrocken, der alte Mr. Kaleem. Ich schätze, seine Alte hat Allah gedankt, als er das Zeitliche segnete. Herzinfarkt. Ist eines Tages mitten während des Essens vom Hocker gekippt.« Weller steckte die Hände in die ohnehin schon ausgebeulten Hosentaschen und zuckte mit den Achseln. »Rashid war erstaunlich betroffen.«
Gemma frage sich, ob Weller derjenige gewesen war, der Kaleem die Nachricht vom Tod seines Vaters überbracht hatte. Und dann wurde ihr mit Schrecken klar, was ihr selbst an traurigen Pflichten bevorstand. »O Gott - ich muss es Tim sagen. Und wir müssen das Jugendamt informieren. Naz Maliks kleine Tochter hat jetzt kein Zuhause mehr.«
Weller hatte gesagt, er würde Gemma mit seinem eigenen Wagen folgen, und sie war froh um die paar Minuten, die sie allein sein konnte. Ihr Escort hatte in der Sonne gestanden, und sie fluchte, als der aufgeheizte Fahrersitz ihr durch die Jeans hindurch
die Oberschenkel verbrannte. Sie drehte die Fenster herunter und ließ den Motor an. Heiße Luft blies aus den Lüftungsschlitzen in ihr ohnehin schon glühendes Gesicht, während sie vorsichtig zurücksetzte und wendete.
Sie überlegte, ob sie Kincaid anrufen sollte, wollte aber nicht während des Fahrens telefonieren, und DI Weller hing mit seinem alten weißen BMW, der genauso zerknittert aussah wie sein Besitzer, wie eine Klette an ihrer Stoßstange.
Allzu bald hatten sie Islington erreicht, und immer noch wusste sie nicht, wie sie es Tim beibringen sollte. Das Informieren der Angehörigen und Freunde des Verstorbenen war immer eine heikle Aufgabe, aber bei einem Menschen, der einem nahestand, war es noch viel schlimmer … Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie jemandem, den sie gut kannte, eine solche Nachricht hatte überbringen müssen - damals war es Hazel gewesen.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, als sie nun direkt vor dem Einzelhaus an dem begrünten Platz hielt, anstatt in die Seitenstraße einzubiegen und vor der Garage zu parken, die einmal ihre Wohnung gewesen war.Am Abend zuvor hatte sie es eilig gehabt, nach Hause zu kommen, und hatte deshalb Tim die Schlüssel an der Haustür in die Hand gedrückt.Tatsächlich hatte sie das Haus noch kein einziges Mal betreten, seit Hazel ausgezogen war. Sie hatten zwar den Kontakt mit Tim aufrechterhalten, aber er war stets zu ihnen gekommen, und gelegentlich hatten sie sich zum Essen oder auf ein Glas Wein in einem Lokal getroffen.
Dann sah sie zu ihrer Überraschung Hazels Wagen vor dem Haus stehen. Nach den gestrigen Spannungen zwischen den beiden war sie sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher