Wenn Die Wahrheit Stirbt
heiß, um den Herd einzuschalten, also mache ich einen Meeresfrüchtesalat, und ich dachte mir, Kit könnte mir mit den Calamares helfen.«
»Was sind Calamares?«, fragte Toby.
Kit wedelte mit den Fingern vor Tobys Gesicht herum. »Tintenfische.«
»Iih!«, rief Toby angewidert; Gemma dagegen lief bei dem Geruch nach Knoblauch, Zitrone und frischen Kräutern, der aus der Küche drang, das Wasser im Mund zusammen.
»Ich kann Tintenfische zubereiten«, setzte Kit genüsslich hinzu. »Man muss sie nur vorher ausnehmen.«
Lachend entgegnete Erika: »Na ja, bevor du dich an die Operation machst, habe ich noch eine kleine Überraschung für jeden von euch - nur ein paar Kleinigkeiten, die ich gestern vom Markt mitgebracht habe.« Von einem Regal angelte sie einen Oldtimer-Doppeldeckerbus für Toby, und für Kit ein Buch mit fleckigem, etwas muffig riechendem Einband. Gemma schaute Kit über die Schulter, als er es aufschlug, und sah, dass es voller wunderbar detaillierter, farbiger zoologischer Zeichnungen war. »Oh!«, rief Kit entzückt und beugte sich zu Erika hinab, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken.
»Das ist ja nur genial«, rief er. »Wo hast du das denn gefunden?«
»An einem der Stände in der Portobello Road. Ein Glück, dass das gute Stück nicht diesen Leuten in die Hände gefallen ist, die mit Drucken handeln«, fügte Erika hinzu und tippte mit dem Finger auf das Buch. Häufig wurden Restposten von
antiquarischen, zum Teil sehr seltenen Bänden mit botanischen oder zoologischen Zeichnungen von Händlern aufgekauft, die dann die Illustrationen ausschnitten und rahmten, um sie einzeln weiterzuverkaufen.
»Das sind ja wunderbare Geschenke, Erika«, sagte Gemma, »aber du verwöhnst die Jungs.« Einen Moment lang bedauerte sie es, die beiden zurücklassen zu müssen, und sei es nur für die paar Minuten, die sie Charlotte bei Betty Howard besuchen würde - sie verbrachte so schon zu wenig Zeit mit Kit und Toby. Aber das Gesicht der kleinen Charlotte Malik ging ihr einfach nicht mehr aus dem Sinn, und sie hatte Charlotte ein Versprechen gegeben, das sie halten musste.
»Dazu bin ich doch da«, entgegnete Erika augenzwinkernd. »Und schließlich bekomme ich als Gegenleistung meine Tintenfische ausgenommen.«
»Du bist ja heute richtig gut drauf.« Gemma sah die alte Dame liebevoll an. »Du sagtest, dein Menü müsse französisch sein - kann es sein, dass dein Gast zufällig auch Franzose ist?«
»Ja, ein kleines Diner für meinen Freund Henri«, gab Erika lächelnd zu. »Also, wenn du noch was zu erledigen hast, dann geh nur, und wenn du wieder da bist, können wir im Garten Tee trinken. Und hattest du nicht etwas von Eis gesagt? Vielleicht könntest du uns welches mitbringen.«
Sie ging mit Gemma zur Tür, während die Jungs in der Küche blieben. »Das ist eine sehr traurige Geschichte mit diesem kleinen Mädchen«, sagte sie leise. Gemma hatte ihr am Telefon ein wenig von Charlotte erzählt. »Aber Kinder halten so einiges aus, und sie ist ja in guten Händen.«
»Erika …« Gemma blieb auf der Schwelle stehen. »Glaubst du, dass so ein kleines Kind versteht, was der Tod bedeutet? Wenn sie mich fragen sollte …«
»Ja, das könnte schwierig sein. Du kennst ihren Hintergrund nicht. Waren ihre Eltern religiös?«
»Ich weiß es nicht.« Gemma dachte an das, was ihr über Naz und Sandra erzählt worden war und was sie in ihrem Haus gesehen hatte. »Eher nicht, vermute ich.«
»Dann würde ich an deiner Stelle abwarten, wie sie es für sich verarbeitet. Sie wird dich vielleicht überraschen.«
Vom Elgin Crescent bog Gemma in die Portobello Road ein und blieb einen Moment stehen, um die Straße hinaufzuschauen, die in der Sommerhitze brütete. So menschenleer, wie sie sich jetzt am Sonntagnachmittag präsentierte, war sie kaum wiederzuerkennen. In den Arkaden waren die Gitter heruntergelassen, die Stände waren abgebaut, und in den Pubs schien auch nicht viel los zu sein. Selbst das altehrwürdige Café ihres Freundes Otto in Elgin Crescent war geschlossen - der Sonntagnachmittag war bei ihm grundsätzlich für seine Töchter reserviert.
Irgendetwas an dieser einsamen Stadtlandschaft sprach Gemma an; einen Moment lang kam es ihr so vor, als ob ihr die Straße gehörte, in all ihrer lebensfrohen, ein wenig mediterran anmutenden Schäbigkeit.
Sie machte kehrt und schlug den Weg nach Norden ein, um ein Stück weiter die Straße hinunter in die Westbourne Park Road einzubiegen. Dort
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