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Wenn Die Wahrheit Stirbt

Titel: Wenn Die Wahrheit Stirbt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie , Andreas Jäger
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lebte Betty Howard zusammen mit ihrem Sohn Wesley noch in derselben Wohnung, in die Bettys Eltern 1959 eingezogen waren, gleich nachdem sie mit dem Schiff aus Trinidad eingetroffen waren. Betty und ihr Mann Colin hatten die Wohnung den Miethaien abgekauft, denen das Haus gehörte, und ihre sechs Kinder darin großgezogen. Doch Colin war vor einigen Jahren viel zu früh einem Herzinfarkt erlegen, und Wesleys fünf ältere Schwestern waren längst erwachsen und aus dem Haus.
    Wesley neckte seine Mutter gerne mit der Behauptung, er bliebe nur bei ihr wohnen, weil er sich die Miete für eine eigene
Wohnung nicht leisten könne. Aber obwohl das auf Wes ebenso zutraf wie auf die meisten jungen Leute in London, wusste Gemma, dass er sich in Wirklichkeit um seine Mutter sorgte und sie ungern allein lassen wollte.
    Als Gemma das Haus erreichte, drückte sie die Klingel für die oberste Wohnung, und als der Türsummer ertönte, trat sie ein und stieg die Treppe hinauf. Betty öffnete die Tür, als Gemma gerade oben ankam, und hielt sich den Zeigefinger an die Lippen.
    »Sie schläft, das arme kleine Ding«, sagte Betty leise und begrüßte Gemma mit einer hastigen Umarmung.Wie immer trug sie ein farbenfrohes Kopftuch, heute in Türkis, und nur ein paar ergraute Haarsträhnen hoben sich von der dunklen Haut ab. »Es war wirklich merkwürdig«, fuhr sie fort, als sie Gemma ins Wohnzimmer führte. »Als Mrs. Silverman ging, da hat sie nur geweint, die Kleine. Nicht mal Wesley konnte sie trösten.Vielleicht ist sie unsere dunklen Gesichter nicht gewohnt.
    Aber dann hat sie die Stoffe da in der Ecke entdeckt. Sie ist schnurstracks darauf zugegangen, hat sich eingegraben wie ein Maulwurf und war im nächsten Moment eingeschlafen. Ich hab ihr die Schühchen ausgezogen, ohne sie zu wecken. Sieh doch nur!«
    Auf den ersten Blick schien Bettys Wohnzimmer ein einziges Durcheinander von Farben und Stoffen. Doch bei genauerem Hinsehen erkannte man, dass der anfängliche Eindruck trog - hier waren einfach nur sehr viele verschiedene Dinge auf engstem Raum versammelt. Zahllose transparente Plastikboxen enthielten Knöpfe, Federn, Litzen, Pailletten und Garnspulen. Die Nähmaschine, ein neues und teures Modell, stand auf einem Tisch am Fenster zur Straße, sodass Betty beim Nähen dem Treiben draußen zusehen konnte. Neben den Kostümen für den Karneval fertigte sie Schonbezüge, Gardinen und Vorhänge - »alles, was man mit Nadel und Faden machen
kann«, wie sie zu sagen pflegte. Ihr Vater war Polsterer gewesen und hatte ihr das Nähen beigebracht, kaum dass sie laufen konnte. Mit sechzehn war sie von der Schule abgegangen, um für eine Hutmacherin zu arbeiten, und hielt seither stolz die Familientradition hoch.
    Als Gemma in die Richtung sah, in die Betty zeigte, erblickte sie einen Stapel Stoffballen, der sich zwischen dem Sofa und dem Fenster auftürmte. Seide und Taft in allen Regenbogenfarben, schwere Brokat- und Satinstoffe, hauchdünne Gaze und eine Rolle Goldlamé.
    Charlotte war tatsächlich zwischen die Ballen gekrochen und hatte eine Ecke des goldschimmernden Materials über sich gezogen wie eine Decke. Nur ihre Locken schauten an einem Ende heraus und am anderen die bestrumpften Füßchen.
    »Eine richtige kleine Prinzessin«, sagte Betty. »Hat sich zielsicher das Gold ausgesucht.«
    »Oh, dass ich daran nicht eher gedacht habe«, flüsterte Gemma, und es schnürte ihr die Brust zusammen. »Es erinnert sie an zu Hause. Ihre Mutter ist Künstlerin und arbeitet mit Textilien. Sie hat ihr Atelier im Haus.«
    »Eine Künstlerin? Mrs. Silverman sagte, die Mutter sei verschwunden?«
    »Ja. Seit Mai. Und jetzt das. Ihr Vater …« Gemma verdrängte das Bild von Naz Maliks totem Körper, umschwirrt von Fliegen in der Mittagshitze. Jetzt lag er wohl, längst erkaltet, auf einer Bahre im Leichenschauhaus.
    »Ist eine merkwürdige Mischung, die Kleine da«, meinte Betty. »Eine richtige Schönheit. Die Mutter eine Weiße, der Vater Pakistani, hat Mrs. Silverman mir erzählt - aber sicher hat sie mehr als nur einen Tropfen westafrikanisches Blut in den Adern, bei den Haaren. Wenn ihre Tränen erst mal getrocknet sind, wird Wesley gleich seine Kamera zücken - wirst schon sehen.«

    »Wo ist Wes denn?«, fragte Gemma.
    »Mal wieder als Lohnknipser unterwegs. Molly Janes, die kleine Tochter des Fischhändlers, feiert heute Nachmittag Geburtstag. Ich beneide Wesley nicht - sich in dieser Hitze mit einem Rudel aufgedrehter, mit Süßigkeiten

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