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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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der Zigarettenrauch wie Kunstnebel über alles. Die Schwaden sammelten sich zuerst in den gemauerten Nischen und machten die Trinker an den Tischen unsichtbar, was dem Begriff »anonyme Alkoholiker« in ein schönes Bild fasste. Erst nach Schließung des Klubs, wenn sich die Trinker zusammen mit den Rauchschwaden durch die geöffnete Tür verzogen hatten, begann der eigentliche Abend. Meist waren es Nächte voller Musik, Tanz und lauten Diskussionen, aber manchmal nahm die Nachtgestaltung auch eine ruhige Wendung. Sie saßen an den klobigen Holztischen, redeten über Bücher, Musik, Filme und alle anderen Dinge, die sie über die Welt gehört hatten.
    Es war zur Gewohnheit geworden, dass Mick, der sich trivialen Tätigkeiten gern entzog, die Aufräumarbeiten mit Vorlesen begleitete. Er saß auf dem Tresen, während Zappa, Roswitha, Frau Pulver und andere Auserwählte die Tische abwischten, dieGläser spülten und den Boden fegten. Oft waren es die Bücher seines Lieblingsschriftstellers Kerouac, mit dem sie wochenlang »on the road« waren, aber auch Gedichte von Celan, Mandelstamm oder der Achmatowa. Mick bevorzugte schmale weiße, in einen Pergamenteinband gehüllte Bändchen. Unter dem dünnen Papier verschwamm die Schrift wie hinter Milchglas und vermittelte den Eindruck einer geheimen Botschaft. Die Titel versprachen Poesie pur: »Menschen aus Worten gemacht«, »Die Stille des Wunders«, »Die Wurzeln der Welt«. Sie kauften viele Bücher aus Neugier, Texte von Autoren, deren Namen sie nie zuvor gehört hatten: Wallace Stevens, Salvadore Quasimodo, Bashan Mykola. Die Bände waren zweisprachig und gaben ihnen ein Gefühl der Weltläufigkeit. Und tatsächlich hieß der Verlag, in dem sie erschienen, »Volk und Welt«. Doch der Name gab den Lesern keinen Grund, übermütig zu werden, denn die Rollenverteilung war eindeutig vorgegeben: Sie waren das Volk und die Bücher die Welt, an der sie lesend teilhaben durften. Oft waren es Zufallsfunde, die sie auf ihren Streifzügen durch die Buchhandlungen ausgruben wie Nuggets aus dem Schlamm. Sie waren Jäger, die beim Betreten eines Antiquariats die Nase hoben und Witterung aufnahmen. Der Geruch von staubigem Papier war Verheißung. Sie waren immer auf dem Sprung und konnten blitzschnell zugreifen.
    Bücher unterteilten sich in drei Kategorien. Die erste Kategorie waren die Neuerscheinung. Zu jeder Leipziger Buchmesse observierten sie akribisch die Regale der ostdeutschen Verlage, die wichtige Neuerscheinungen meist als Blindbände ausstellten, um Diebstahl sinnlos zu machen. So konzentrierten sie sich auf das Erbeuten der Kataloge, die ihnen alle Neuerscheinungen mit Bestellnummer offerierten. Zuvor hatten sie in den BuchhandlungenBestellzettel gejagt, denn schon der Besitz eines Bestellzettelblocks war ein Wert und verlangte mindestens die Freundschaft zu einer Buchhändlerin. Sie bestellten die Bücher mehrmals, in verschiedenen Buchhandlungen der Stadt, und wenn sie Glück hatten und zu den Auserwählten gehörten, dann bekamen sie nach Wochen, oft nach Monaten und in einigen Fällen nach Jahren eine Postkarte zugeschickt, die ihnen erlaubte, das ersehnte Buch abzuholen.
    Buchhändler waren beliebte Personen, und eine Nachbarin, die bei der Geburt ihrer Tochter, zwischen zwei Wehen nach ihrem Beruf gefragt, leicht nuschelnd »Buchhalterin« hervorgepresst hatte, wunderte sich über die äußerst liebevolle Behandlung in der Klinik, die allerdings nachließ, als der Oberarzt bei der vermeintlichen »Buchhändlerin« am Wochenbett Märchenbücher bestellen wollte. Der allgemeine Bestellwahn führte dazu, dass viele Bücher ungelesen den Weg in die Antiquariate nahmen. Das war die Kategorie zwei: das antiquarische Buch. Es waren Bücher, die darauf harrten, von ihnen entdeckt zu werden. Bücher, von denen sie überhaupt nicht wussten, dass sie existierten und die ihnen unerwartet in die Hände fielen. Für wenige Pfennige Glück.
    Die dritte Kategorie war der Olymp: das Westbuch. Diese Bücher konnten auf der Leipziger Buchmesse zwar betrachtet werden und Stehlen war seitens der Verlage erwünscht. Doch wachten die Genossen der Staatssicherheit fürsorglich über die Bestände ihrer westdeutschen Gäste. Und selbst Frau Pulver, die dank ihrer Kleinheit eine wendige Diebin war, wurde einmal beim Stehlen erwischt und zum Verhör gebracht. Das Objekt von Frau Pulvers Begierde war Sartres »Transzendenz des Ego« gewesen, und der verhörende Genosse hatte irritiert auf den

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