Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Haare oft gehänselt worden war und sich deshalb sehr zurückhaltend verhielt. Er tat alle Dinge unaufgeregt, aber stetig. Die Zappamutter, die mit dem Verkauf ihrer Töpferwaren gut verdiente, erfüllte ihrem einzigen Sohn fast jeden Wunsch und hatte ihm in der Scheune ein Fotolabor eingerichtet. Zappa träumte davon, ein berühmter Regisseur zu werden, hatte aber als Kind einer freischaffenden Künstlerin gegen die aufstrebende Arbeiterklasse kaum die Chance auf einen Studienplatz. Zumal sein Vater, dessen Abwesenheit mit »unterwegs« erklärt wurde, kurz nach Zappas Geburt in den Westen geflohen war. Von dort aus schickte er schöne Pakete, was sowohl Mick als auch Roswitha für eine gute Vaterlösung hielten.
Neben verschiedenen Fotoapparaten besaß Zappa eine russische Super-8-Kamera, die er ständig mit sich herumtrug. Er filmte alles, was ihm vor das Objektiv kam, von einem leeren Kasten Bier bis zu einer Fliege an der Wand, hatte aber die grundsätzliche Scheu, seine Kamera auf Menschen zu richten.
Nächtelang saß er in seiner Fotowerkstatt in der Scheune und bearbeitete die Aufnahmen. Er zerschnitt die Filme in unzählige Schnipsel, die er mit großer Geduld wieder zusammenklebte. Die Vertonung erfolgte separat mit Tonband oder Schallplatte, wobei sich die Bilder der Musik anpassen mussten. Zappa hatte ein unglaubliches Gespür für das Zusammenspiel von Bildern und Musik und konnte aus dem Zoom in eine Bierflasche mit Hilfe einer Bach-Fuge einen sakralen Moment machen. Im völligen Gegensatz zu dem von Mick verordneten Namen liebte Zappa klassische Musik. Black Sabbath und Alice Cooper waren ihm ein Gräuel, stattdessen hörte er tagelang Bach, Pink Floyd oder Keith Jarrett. Die Liebe zu den
Köln-Konzerten
teilte er mit Roswitha,aber nicht mit Mick, der das Album als »Weibermusik« abtat. Nur bei »Friday Night in San Francisco« von Al Di Meola und Paco de Lucia waren sie sich alle einig. Manchmal, in warmen Sommernächten räumte Zappa seine Boxen auf den Hof, und dann saßen sie auf Zappamutters Hollywoodschaukel oder lagen im Gras, sahen in den Himmel und hörten die Klänge von jenem legendären Konzert in San Francisco. Sie träumten sich die Milchstraße entlang, auf die andere Seite des Ozeans, und es schien, als würden die Sterne am Himmel im Takt der Musik tanzen.
Von Zappa lernte Roswitha das Sehen, von Mick das Hören und von Lilo, genannt »Frau Pulver«, zu leben. Mick ließ keine Gelegenheit aus, die ersten Zeilen seines Erstklässlerlesebuchs zu zitieren: »Mama am Tisch, Oma am Ofen, Lilo am Fenster«.
Mit Frau Pulver war das Kleeblatt komplett. Sie war eine der wichtigsten Personen der Hochschule, wenn nicht die wichtigste überhaupt, denn sie stand im Studentenklub hinter dem Tresen und entschied, wer zu später Stunde noch etwas zu trinken bekam. Sie war so klein, dass sie beim Ausschenken auf eine Getränkekiste steigen musste, um mit ihren Gästen in Augenhöhe zu bleiben. Doch trotz ihrer Kleinheit war sie die Chefin im Ring. Sie bestimmte, wann Schluss war, und setzte, wenn es nötig war, die Betrunkenen mit geübtem Griff auf die Wiese vor den Studentenklub. Nur ausgewählte Gäste durften bleiben und hinter verschlossener Tür weiterfeiern. Sie tanzten, tranken, rauchten und redeten bis in die Morgenstunden. Wenn sie müde wurden, legten sie sich auf die schmalen Holzbänke und ruhten sich aus. In dieser Zeit hätte Roswitha auch auf einem Bügelbrett schlafen können, ohne herunterzufallen.
Frau Pulver hatte die Gabe, im Jetzt zu leben. Jetzt wollte sie tanzen, jetzt wollte sie trinken, jetzt wollte sie geliebt werden –und am besten alles gleichzeitig. Sie war voller Energie und ständig in Sorge, etwas zu verpassen. Um ihre Wünsche durchzusetzen, ging sie nicht nur mit dem Kopf durch die Wand, sondern mit dem ganzen Körper. Es war ein Kamikazeleben. Frau Pulver war ständig verliebt, und immer war es der Falsche, und selbst wenn es der Richtige gewesen wäre, hätte er niemals ausreichend Zeit bekommen, es zu beweisen. Nur Mick und Zappa, die sie liebevoll »meine Brüder« nannte, waren vor ihr sicher, wobei sich der stille Zappa mit etwas Wehmut in seine Bruderrolle fügte.
Der Studentenklub lag im Keller. Eine steile Treppe führte in die von allen so genannte »siebte Hölle«, einen großen Raum mit unverputzten roten Klinkerwänden. Entlang der Decke zogen sich dicke Heizungsrohre. Es gab keine Fenster, keine Entlüftung, und im Laufe des Abends legte sich
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