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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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eingezogen.
    Schmerzhaft langsam schwenkte die Kamera von der Schnecke zu einem matt leuchtenden Fenster. Auch hinter dieser Gardine flackerte der Bildschirm. Plötzlich explodierte das Nichts. Nach einem grellen Blitz wechselte die Perspektive in den Raum. Man sah Mick, vom Wahnsinn getrieben, durch das Zimmer stürzen, hin und wieder vor dem Fernseher niederknien, auf dem die Rockpalastbilder nur schemenhaft zu erkennen waren. Und dann sah man die Rakete Mick gegen die Wohnzimmertür fallen und mit dem Barwagen zurückkehren. Er irrte mit seiner gefährlich schwankenden Fracht durchs Zimmer, umgeben von einem verstörten Publikum, das beim Anblick der Likörflaschen erwachte und wie bei einer Armenspeisung dem edlen Spender bettelnd die leeren Gläser entgegenstreckte. Während Mick dieGläser füllte, sah man die Zappamutter im schillernden Morgenmantel das Zimmer betreten, ihre blonden Haare leuchteten wie Gold. Fassungslos starrte sie auf die trunkene Menge und die leeren Likörflaschen.
    Der Rest ging unter im Jubel, der aus den Boxen kam. Das Publikum im Saal blieb wie gewohnt still.
    Auch die Genossen auf dem Podium schwiegen. Bis sich endlich einer räusperte und sagte: »Außer Konkurrenz!«
    Sie waren außer Konkurrenz, was Mick deutete mit: Konkurrenzlos. Besser als alle anderen.
    Euphorisch fuhren sie zurück zur Hochschule. Die Prüfungsvorbereitung waren ihnen egal. Mick rechnete ohnehin damit, dass sie durchfallen würden. Doch die Strafe war viel perfider. So dumm sie sich auch anstellten, alle vier bestanden die Prüfungen und wurden mit einem mäßigen Zeugnis zurück in ihre jeweiligen Heimatorte geschickt. Das war die Höchststrafe.
    Am Tag der Zeugnisausgabe saßen sie zum letzten Mal im Studentenklub. Frau Pulver hatte ihr Amt bereits übergeben, und ein Student aus dem ersten Studienjahr stand hinter dem Tresen. Als sie nach Mitternacht noch ein Bier haben wollten, schüttelte er nur den Kopf. Wütend verließ Mick den Klub und schlug die Tür zu. Und obwohl er es ein zweites Mal versuchte und dazu mit Wucht gegen die Tür trat, schaffte er es nicht, dass die Scheibe zersprang.
    Schlag eine Tür zu, und ein Tor öffnet sich. Heißt es in einem Sprichwort. Das Tor, das sich für Roswitha öffnete, war das Werkstor. Die schlimmsten Befürchtungen hatten sich erfüllt. An ihrem ersten Arbeitstag hetzte Roswitha zu einer Zeit, zu der sie sonst oft nach Hause gekommen war, zur Haltestelle. Wiealle anderen auch döste sie im Bus vor sich hin und trottete auf einer Ameisenstraße dem Werkstor entgegen. Ausweis zeigen und durch. Roswitha musste sich beim Pförtner melden und durfte erst dann das Tor passieren. In dem Moment, in dem sie das Gelände betrat, heulte die Sirene. Getroffen von dem langgezogenen Ton, blieb Roswitha mitten auf der Fahrbahn stehen. Breitbeinig, in ihren heiligen Levis, Fleischerhemd und um den Hals eine gefärbte Baumwollwindel. Ihre Waffen gegen die Anpassung.
    Das Produktionsleitungsbüro lag in einer Baracke. Roswitha musste die Klinke anheben, damit die Tür sich öffnen ließ. Die schmalen Gänge und Pappwände erinnerten sie an die Sommerunterkunft im Kinderferienlager. Doch statt Doppelstockbetten standen Schreibtische in den Räumen. Sie bekam einen Platz im Sekretariat des Produktionsdirektors zugewiesen. Die Sekretärin musterte Roswitha mit einem merkwürdigen Blick, räumte sichtlich genervt ihre Blattpflanzen vom zweiten Schreibtisch und schickte Roswitha erst einmal zur Materialausgabe. »Guten Morgen, Bleistift! Guten Morgen, Radiergummi! Guten Morgen Büroklammer!« Die Frau hinter dem Schalter machte ein Gesicht, als müsse sie sich bei jedem Gegenstand, den sie Roswitha aushändigte, von ihrem persönlichen Eigentum trennen. Roswitha bekam zwei Bleistifte, einen Kugelschreiber, einen roten Filzstift, einen Radiergummi, einen Locher, drei Hefter und zwei Ordner zugeteilt. Ihr Besitz wurde auf einer Karteikarte eingetragen, um zu vermeiden, dass sie bereits nach einer Woche einen neuen Bleistift forderte. Als Roswitha ihr Büro wieder erreicht hatte, bemerkte sie, dass sie unterwegs den roten Filzstift verloren hatte.
    Der Tag verging, ohne dass sie den Produktionsdirektor zu Gesichtbekam. Sie solle sich erst einmal einleben, sagte ihr die Sekretärin. Das Einleben bestand aus dem Lesen von Arbeitsschutzbestimmungen und Produktionsverordnungen. Noch immer wusste Roswitha nicht, was ihre Arbeitsaufgabe sein würde. Im Arbeitsvertrag stand »Wissenschaftlicher

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