Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
unauffällig die Fahrgäste, was nicht schwerfiel, da sie zur Tarnung ihres blauen Auges immer noch die große Sonnenbrille des Cowboys trug. Niemand war schäbig gekleidet, niemand wies eine sichtbare Verletzung auf. Die Einzige mit einem zerschrammten Gesicht war sie selbst. Roswitha bemerkte, wie sievon den anderen heimlich beobachtet wurde. Der Zug hielt an der 14. Straße, der 34., der 42., an der 59. stiegen alle weißen Mitfahrer aus dem Abteil aus. Als der Zug seine Fahrt wieder aufnahm, hatte Roswitha das Gefühl, dass er jetzt schneller fuhr. Sie passierten die Siebzigerstationen ohne anzuhalten, die Achtziger-, die Neunziger-. Plötzlich brach das Rattern ab, und es wurde still. Beinahe geräuschlos schwebte der Zug durch den Tunnel. Sie war im Niemandsland zwischen den Welten.
Vor vielen Jahren hatte sie schon einmal diese Empfindung gehabt, als sie in Berlin von der Bornholmer Straße nach Pankow gefahren war und die S-Bahn das Sperrgebiet an der Grenze durchquert hatte. Rechts Stacheldraht, links Stacheldraht. Roswitha hatte damals zu erkennen versucht, wo der Westen begann. Ein leiser Gedanke an Flucht. In welche Richtung müsste sie rennen, wenn der Zug plötzlich anhalten würde und jemand die Tür aufmachte? Später hatte ihr ein Freund erzählt, dass die Fahrer angewiesen waren, die Türen zu verriegeln und die Notbremsen auszuschalten, bevor sie durch dieses Gebiet fuhren.
Der Zug stand mitten im Tunnel. Niemand im Abteil schien sich darüber zu wundern. Roswitha versuchte gelangweilt auf den Boden zu blicken. Ihr fiel Tracy Chapmans Song »Subcity« ein, der eine Untergrundstadt besang, in der die Leute zwischen Müll und Verwesung lebten. »Here in subcity life is hard«.
Nach gefühlten zehn Minuten fuhr der Zug mit einem Ruck weiter und hielt endlich an der nächsten Station. Auf dem Schild stand: 125 th Street. Vorsichtig stieg Roswitha den Treppenaufgang nach oben. Als sie die Straße sah, blieb sie geschockt stehen. Das war nicht Harlem! Nirgendwo waren in Lumpen gehüllte Bettler zusehen, Krüppel oder Leichen. Es gab keine Müllberge, und auf den ersten Blick dealte niemand mit Drogen. Statt dessenzogen sich über den gesamten Fußweg Verkaufsstände. Es gab Mützen, Schals, Brillen, T-Shirts, Seife, Cremes, Parfüm, Bücher, Filme, Obama-Wandbehänge, Obama-Plakate, Obama-T-Shirts, Obama-Ölbilder. Ghettoblaster brüllten mit lauter Musik gegen den Straßenlärm an, und ein Händler pries durch ein Megafon die Qualität seiner Ware. Alles wirkte friedlich und ungefährlich. Sie musste sich beim Aussteigen geirrt haben.
Doch dann sah Roswitha die Leuchtschrift: «Welcome to the World famous Apollo«. Eigentlich hätte sie jetzt auf die Knie fallen müssen. Im Apollo hatten sie alle gesungen. Ella Fitzgerald, James Brown, Bob Marley, Aretha Franklin. Auch Etta James. Für viele Musiker hatte hier die Karriere begonnen. Und als hätte es nie aufgehört, stand in großen Buchstaben über dem Eingang »Amateurs night«. Der Termin war am kommenden Mittwoch. Ihr Rückflugtag. Es erinnerte sie daran, dass sie nur noch drei Tage hatte, um Mick zu finden. Vor ihr lag eine schwierige Aufgabe: der Besuch bei Mrs. Jones.
Sie überlegte, wie sie ihre Frage nach Mick formulieren könnte. Vielleicht mithilfe der Bee Gees? »Have you seen my friend Mrs. Jones?«.
Bis zur 132. Straße waren es noch sieben Blocks. Roswitha war überrascht, dass selbst auf der Hauptstraße viele Häuser nur vier oder fünf Etagen hatten. Mit ihren braunen Fassaden und den weiß gestrichenen Feuerleitern sah alles aus wie eine Filmkulisse aus den Zwanzigerjahren. Gleich würde ein Cadillac mit quietschen den Reifen um die Ecke biegen und eine Schießerei beginnen. Doch nichts passierte. Eine Frau balancierte einen prall gefüllten Plastiksack auf einem Drahtwägelchen durch die Tür eines Waschsalons. Ein Mann führte einen Pudel spazieren, der ein rotes Kapuzenmäntelchen trug. Der Hund machte nicht einmalAnstalten, an Roswithas Bein zu schnüffeln, geschweige denn zu beißen. Vor einem Gemischtwarenladen standen fünf Männer in der Sonne und unterhielten sich. Erwartungsvoll sahen sie Roswitha entgegen. Oder war es lüstern? Ängstlich, jederzeit bereit, davonzurennen, lief sie an den Männern vorüber, und als sie es fast geschafft hatte, sagte der eine: »Hey, beautiful lady! Have a beautiful day!«
Das Haus von Mrs. Jones war leicht zu finden. Es lag in einer Seitenstraße. Hier waren die meisten Häuser schmal
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