Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Mitarbeiter«, ein dehnbarer Begriff. Ein WiMi war ein Nichts, eine unnötige Person, dass ließ die Sekretärin sie spüren. Sie gab Roswitha das Gefühl, dass sie ihr die Luft im Raum wegatmen würde. Roswitha saß an dem ihr zugeteilten Schreibtisch, vor sich die Unterschriftsmappe mit Arbeitsschutzbestimmungen und die Hausordnung. Die einzige Abwechslung war ein Blick aus dem Fenster. Der Himmel über den Dächern der Werkhallen schimmerte rot. »Fast wie in Woodstock«, dachte Roswitha und hatte unendliche Sehnsucht nach Mick und ihren Freunden.
Es gab eine Adresse. Doc Snyder kam und wedelte mit einem Zettel. »Von Leonard!«
Es war merkwürdig. Zuerst war sie verzweifelt gewesen, weil sie Mick unter seiner angegebenen Adresse nicht gefunden hatte, und nun verspürte sie bei dem Gedanken, dass sie plötzlich seine Adresse bekam, Angst?
Es war zu viel Zeit zum Nachdenken gewesen. Sie hatte während der vergangenen Tage überlegt, wie Mick jetzt aussehen würde. War er noch immer dünn? Hatte ihn der Haarausfall verschont? Würde sie ihn wiedererkennen? Und wie war es mit ihr selbst? In ihrer eigenen Wahrnehmung hatte sie sich seit der Studentenzeit kaum verändert. »Man kann auch mit fünfzig noch wie zwanzig sein«, hatte ihr eine Freundin auf die Vorderseite einer Geburtstagskarte geschrieben und auf die Rückseite: »Allerdings nur noch eine halbe Stunde am Tag.«
Doc Snyder gab ihr den Zettel. Es war die Adresse der Krankenschwester. Auf einem Papierstreifen stand mit krakeliger Schrift: 132th SF 56 – Mrs. Jones – Harlem.
»Mick wohnt in Harlem?«
»Warum nicht? Fürchtest du dich?«
Roswithas Vorstellung von Harlem speiste sich aus einem Buch des Dänen Jakob Holdt, der in den Siebzigerjahren durch Amerika getrampt war, als »Experte des Vagabundierens«. Er war nach eigenen Angaben 161265 Kilometer per Anhalter durch achtundvierzig Bundesstaaten gereist, was ihm Micks Respekt eingebracht hatte. Während der fünfjährigen Reise waren Tausende Fotos entstanden, von denen Holdt später einen Teil zusammen mit Briefen und Tagebuchaufzeichnungen in einem Buch veröffentlichte. Die meisten Bilder zeigten schwarze Menschen, die im Elend lebten. Auch in den Texten, die Mick zu seiner Tresenlektüre machte, war von Armut, Schmutz und Gewalt in den schwarzen Ghettos die Rede. Harlem war eines davon.
»Es waren weniger die andauernden Einbrüche, die mich lähmten. Es war mehr die Angst davor, die Angst, ins Treppenhaus hinauszugehen oder auf die Straße, wo es kaum zu vermeiden war, dass man von messer- oder pistolenbewaffneten Männern angegriffen wurde. An Enge kann man sich gewöhnen. Man kann sich daran gewöhnen, dass die Badewanne in der Küche steht und mit einem Brett darauf als Esstisch dient, wie sich Tausende und Abertausende von Menschen in diesem Teil New Yorks daran gewöhnt haben. Man kann sich auch daran gewöhnen, Drahtnetze zwischen Küche und Schlafraum zu haben, damit die Ratten aus der Küche nicht hereinkommen und einem ins Gesicht beißen, während man schläft. Und es wird schnell zur Gewohnheit,wenn man morgens aufwacht, all die toten Kakerlaken aufzufegen, auf denen man im Laufe der Nacht gelegen hat. Aber an die ständige Ungewissheit, wann man selbst ein Messer in den Bauch gestoßen bekommt, gewöhnt man sich niemals.«
Vielleicht war Roswitha diese Stelle wegen der Beschreibung der Badewanne im Gedächtnis geblieben. Damals hatten sie das alles aufregend gefunden und waren neidisch auf Jacob Holdt gewesen, der sich, solange er es wollte, in Amerika durchschlagen durfte. Mick liebte vor allem die Szene im Buch, in der Holdt beschrieb, wie er in seiner Eigenschaft als Türsteher in einem Klub Bob Dylan, der keinen Eintritt bezahlen wollte, den Einlass verwehrt hatte. Das war der Rauswurf für den Rauswerfer.
Doch nun, da Roswitha allein nach Harlem fahren sollte, dämpfte die Erinnerung an das Buch ihre Unternehmungslust, und sie beschloss, wegen der bereits beginnenden Abenddämmerung ihren Ausflug auf den nächsten Morgen zu verschieben.
»You must take the A train. To go to Sugar Hill way up in Harlem.« Jetzt war es so weit.
Für Mick war dieser Titel von Duke Ellington durch die Stones geadelt worden, die den Soundtrack als Intro für ihr Album »Still life« genommen hatten: »Ladies and Gentlemen would you welcome please the Rolling Stones!«
Der Gedanke an die Musik beruhigte Roswitha ein wenig. Mutig bestieg sie in der 4. Straße den A-Train. Sie musterte
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