Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
und nur drei Etagen hoch.
Roswitha stand vor dem Klingelbrett und war überrascht. Statt Namen standen neben den einzelnen Klingeln nur Ziffern und Buchstaben. Hatten hier nicht nur die Straßen Nummern, sondern auch die Menschen? Lohnte es sich nicht, einen Namen anzuschreiben, weil hier keiner lange wohnen blieb? Oder war die Beschriftung ein Geheimdienstcode? Roswitha versuchte die Zahlen auf ihrem Zettel zu entziffern.
Bevor sie sich für eine Klingel entscheiden konnte, öffnete ein etwa dreijähriger Junge die Tür. Er blieb neben Roswitha stehen und sah sie erwartungsvoll an.
»Ich suche Mrs. Jones!«, sagte Roswitha.
»Mom«, rief der Junge in den Hausflur.
Roswitha stand da, wie vom Schlag getroffen. Mit Kindern hatte sie nicht gerechnet. Sie sah den Jungen an. Er hatte nur eine leicht gebräunte Haut und fast glatte Haare. Er war eindeutig ein Mischling. Oh Gott, wie nannte man das bei Menschen? Im Flur erschien eine Frau, vielleicht zehn Jahre jünger als Roswitha. Der Junge sah ihr ähnlich, mit dem Unterschied, dass ihre Hautfarbe viel dunkler war. Wie lange hatte Mick die Krankenschwester gekannt?
»How are you?«, fragte die Frau.
»Beschissen«, hätte Roswitha am liebsten geantwortet. Doch sie hatte mittlerweile die Lektion gelernt: Sagen Sie nicht, wie Sie sich fühlen, sondern fragen Sie Ihr Gegenüber ebenfalls, wie es ihm geht.
»I’m coming from Germany«, stammelte Roswitha.
»Aus Sachsen!«, rief die Frau, »det sag ick doch immer, die Sachsen sind überall.« Die Frau kam eindeutig aus Berlin.
»Ich suche Mick. Michael Stein.«
»Michi? Gehören Sie zu seiner Familie?«
»Nicht direkt.«
Die Frau zögerte.
»Geht es ihm gut?«
Die Frau sah Roswitha überrascht an. »Das hoffe ich doch!«
»Kann ich ihn sprechen?«
»Er wohnt nicht mehr hier.«
Roswitha sah auf den Jungen.
Plötzlich lachte die Frau. »Sie denken doch nicht etwa …?«
»Ja.«
Die Frau streckte Roswitha die Hand entgegen. »Ich bin Malenga. Wir wollten gerade zum Brunch gehen. Das machen wir an jedem Sonntag.« Sie hatte eine sichtbare Lücke zwischen den Schneidezähnen. Das bringt Glück, dachte Roswitha.
»Roswitha«, sagte Roswitha. »Mick hat mich immer Rose genannt.«
»Ich weiß«, sagte Malenga. »Er hat mir viel aus seiner Studentenzeit erzählt. Geschichten aus unserem untergegangenen Land.« Sie lachte mit tiefer Stimme.
»Willst du mit zum Brunch kommen?«
Das Restaurant lag nur wenige Blocks entfernt. Die Fassadewar mit einem bunten Graffito besprüht: Enjoy Harlem. Um die Fensterrahmen zogen sich mit Lichtern und silbernen Kugeln geschmückte Tannengirlanden.
»Wir gehen jeden Sonntag hierher«, sagte Malenga. »Momo liebt die Musik. Und ich das Essen.« Auf einer kleinen Bühne, neben einem bunten Weihnachtsbaum, saßen drei Musiker. Obwohl es erst Ende Oktober war, begann bereits überall die Aufrüstung für das Weihnachtsgeschäft.
Das Restaurant war geteilt. Auf der einen Seite standen die Tische, auf der anderen war die Selbstbedienungstheke, vier lange Reihen mit Stahlbehältern. In dieser Stadt gab es kein Maß. Die Gäste flanierten mit einer Polysterolschale durch die Gänge, und jeder nahm, was er wollte.
»Magst du Soulfood?«
»Ich kannte Soul bisher nur als Musik.«
»Das Essen ist fast besser als Musik«, sagte Malenga, »das polstert die Seele. Sucht euch einen Tisch, ich hol uns was!«
Wie selbstverständlich nahm Roswitha Momo an die Hand. Sie setzten sich an einen Tisch, von dem aus die Musiker gut zu sehen waren.
Malenga kam mit einem Tablett voller weißer Polysterolverpackungen zurück. »Das änderst du nicht«, sagte sie, als sie Roswithas Blick bemerkte. »Aber immerhin trennen wir hier schon seit einiger Zeit den Müll.«
Malenga öffnete die erste Box. »Das ist Collard Green.«
»Sieht aus wie Spinat!«
»Schmeckt aber eher wie Grünkohl.«
»Und du weißt wirklich nicht, wo Mick jetzt wohnt?«
»Er wollte sich melden. Hat er aber nicht.«
»Wieso hast du ihn aus dem Krankenhaus mit nach Hause genommen?«
»Er hatte wenig Geld. Und wir kannten uns aus dem Auffanglager Gießen. «
»Wieso Gießen? Es gab das Gerücht, er sei in die Türkei geschwommen.«
»Das wollte er. Jemand hatte ihm erzählt, die bulgarische Grenze wäre nicht gut bewacht und die Soldaten würden betrunken auf Eseln patrouillieren.«
»Und dann?«
»Ist er ans Schwarze Meer gefahren und an der Küste entlang bis Achtopol getrampt. Das ist der letzte Ort vor der
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