Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
Vom Netzwerk:
den Auslöser, bis sie einen Widerstand spürte. Der Film war aufgebraucht. Zum Glück fand sie in ihrer Jackentasche eine neue Kassette, doch der Wechsel brauchte Zeit. Sie verfluchte diesen verdammten russischen Fotoapparat, denn im Unterschied zu anderen Fotoapparaten wurde der Film aus der Kassette ungeschützt auf eine leere Spule gezogen und musste vor dem Wechseln erst mit einem kleinen Hebel, der oft klemmte, zurückgespult werden. Russische Technik eben. Roswitha merkte, dass ihre Hände zitterten. Nur mühsam gelang es ihr, den Film zurück in die Kassette zu drehen. Ausgerechnet in diesem Moment kamen die Feuerwehrmänner. Sie ärgerte sich, dass sie nicht in der Lage war, die Fassungslosigkeit in den Gesichtern zu fotografieren. Als der neue Film endlich eingelegt war, hatten sich die Feuerwehrmänner bereits wieder gefasst und eine Drehleiter geholt. Mit der frei schwebenden Leiter versuchten sie Mutter und Kind zu retten. Roswitha fotografierte, wie sie zuerst den Jungen und dann die Frau nach unten trugen. Plötzlich stand ein Mann neben Roswitha. Er trat ihr ins Bild, streckte die Hand aus und sagte: »Die junge Frau gibt mir jetzt ihren Fotoapparat!« Es war ein Ton, der keine Widerrede zuließ. Wieso trägt ein Feuerwehrmann Zivil?, dachte Roswitha, gab ihm aber den Fotoapparat, weil sie vermutete, dass er selbst Fotos machen wollte. Doch dann musste sie fassungslos mit ansehen, wie der Mann die Rückwand des Fotoapparats aufklappteund den Film langsam von der Spule zog. Er klappte die Rückwand wieder zu und gab Roswitha wortlos die Kamera zurück. Mick, der einige Meter entfernt stand, hatte alles beobachtet und wollte dem Mann an den Kragen. Doch der hob nur die Hand. »Sie wohnen hier?«
    Mick nickte und zeigte auf die Wohnung über der Polsterwerkstatt.
    »Ausweis!«, sagte der Mann.
    Mick ging zurück in die Wohnung und holte seinen Personalausweis.
    Der Mann blätterte in dem Ausweis und sah lange auf die Seite, auf der als polizeilich gemeldete Nebenwohnung die Adresse des Studentenwohnheims stand. Betont langsam gab er Mick den Ausweis zurück, drehte sich um und ging.
    Eine Zeit lang blieben Roswitha und Mick noch auf dem Hof stehen. Als sie in die Wohnung kamen, hörten sie das Kratzen. Die Platte war abgelaufen, und der Plattenspieler hatte sich nicht wie sonst allein ausgeschaltet. Das war noch nie passiert. Immer wieder sprang die Nadel ein Stück zurück und traf das heisere Lachen von Janis. »It’s all the same fucking day!«
    Eine Woche später klopfte der Polsterer und sagte, dass er den Raum nicht mehr vermieten könne, da es kein von der Behörde zugelassener Wohnraum sei. »So ohne Bad!« Er deutete auf die Badewanne, die ohne Wasseranschluss in einer Ecke stand. »Dem Klempner hat damals das Material gefehlt!«, sagte der Polsterer entschuldigend und knetete nervös seine Hände. »Ich bin ein privater Handwerker, schon mein Urgroßvater hatte hier seine Werkstatt. Ihr wisst schon!«
    Er blickte Mick nicht ein einziges Mal ins Gesicht. Mick machtees ihm leicht und schwieg. Und er schwieg auch, als der Polsterer gegangen war. Roswitha setzte sich neben ihn, aber sie wagte nicht, ihn zu berühren. Mick war Dynamit, jeder Anstoß konnte ihn zur Explosion bringen. Doch Mick blieb ruhig. Einen Tag, zwei Tage. Am dritten Tag dachte Roswitha, dass sie ihn allein lassen könnte, und ging zu einer Konsultation an die Hochschule. Als sie zurückkam, herrschte Chaos. In der kurzen Zeit hatte sich Mick Kartoffelsäcke und Kisten organisiert und räumte wie im Wahn seine Regale leer. Wahllos stopfte er seine geliebten Bücher in die Säcke und schmiss die Schallplatten in die Kartons. Roswitha wusste, dass es zwecklos war, ihn aufzuhalten. Zum Glück war Zappa mitgekommen und hatte das Lieferauto seiner Mutter dabei. Gemeinsam trugen sie die Säcke und Kisten zu dem rostigen Barkas, während Mick versuchte, mit einem Hammer seine Möbel zu zerschlagen. Als es nicht gelang, öffnete er das Fenster, schleifte die Regale durch das Zimmer und ließ sie auf den Hof fallen. Unten sprang er darauf herum, bis sie vollends zerbrochen waren. Dann steckte er einige Holzteile in eine leere Mülltonne und zündete sie an. Nach einiger Zeit begann das Feuer zu lodern und ätzender Qualm zog an den Häuserfronten entlang. Roswitha hatte Angst, dass jemand die Feuerwehr rufen würde, aber die Nachbarn schlossen nur demonstrativ ihre Fenster. Wie besessen legte Mick immer wieder Holz und Fetzen der

Weitere Kostenlose Bücher