Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
zeigte kein Interesse, einen Ersatz zu finden. Dazu kam die Gewissheit um das bevorstehende Ende des Studiums.Sie fürchtete, dass wechselnde Liebhaber keinen Ausgleich zum Werktätigenalltag sein würden, und beneidete Mick, Zappa und Roswitha um ihre künstlerischen Projekte. Die Idee, eine Schauspielausbildung zu beginnen, hatte sich zerschlagen, da ihr die Schauspielschule zu verstehen gegeben hatte, dass sie für eine Bewerbung zu alt war. Es blieb die Hoffnung auf eine etwaige Anstellung als »Naturtalent«, doch die machte ein betrunkener Regisseur, der von Frau Pulvers Schauspielergeliebten wusste, mit dem Satz »Sperma ersetzt keine Ausbildung« zunichte.
Aber noch einmal war es wie in alten Zeiten. Kurz vor den mündlichen Prüfungen war Zappas Film fertig geworden, und Mick lief zu Höchstform auf. Er überredete Zappa, seinen Film bei einem Kurzfilmwettbewerb anzumelden, und überzeugte die Bewerbungskommission, trotz der bereits abgelaufenen Einreichungsfrist den Film nachträglich und ungeprüft ins Programm zu nehmen.
Sie fuhren als »Zappas Filmteam« nach Karl-Marx-Stadt. Ihre Konkurrenten hießen: »Kulturfilmschaffende Thomas Müntzer«, »Filmklub des Kreiskulturhauses Rosa Luxemburg« und »Betriebsfilmzirkel Frieda Hockauf«. In der Jury saßen zwei junge Frauen in FDJ-Bluse und drei Männer in Parteigrau.
Ein Techniker nahm Zappas Film in Empfang und war überrascht, als Mick zusätzlich seinen Plattenspieler aus der Tasche holte. Zappas Film hatte keine Tonspur, denn nur die Filmklubs und Betriebszirkel konnten es sich leisten, mit Zweibandtechnik zu arbeiten oder gar 16-mm-Filme zu produzieren. Bei den im Laden gekauften Super-8-Filmen gab es nur eine einzige Spur, und wollte man keinen Stummfilm zeigen, musste der Ton zeitgleich von einem separaten Gerät abgespielt werden. Das wiederum war besonders bei Dialogen eine heikle Angelegenheit, daProjektor und Rekorder nicht die gleiche Taktung hatten und der Ton nie lippensynchron ablief, was eine gewisse Komik ergab und jede Vorführung zum Unikat machte. Musik war am unverfänglichsten. Im Fall von Zappas Film bestand die Komplikation darin, dass Überspielen auf eine Tonbandkassette keinen Sinn gemacht hätte, da die handelsüblichen russischen Kassetten den Ton nur in Mono wiedergaben. Das wäre Frevel gewesen, denn das Konzert in San Francisco war ein Meilenstein der Stereofonie.
Al Di Meola kam aus dem linken Kanal, Paco de Lucia aus dem rechten Kanal und John Mc Laughlin aus der Mitte. Nach einem kurzen Beifall begannen die Gitarren ihren Dialog, ein sanfter musikalischer Streit, der sich steigerte.
Das Bild auf der Leinwand hielt auf eigene Weise dagegen. Es zeigte in einer einzigen langen Einstellung eine leere Dorfstraße in der Abenddämmerung. Nach einer Minute kam in schwarzen Lettern der Titel: »Freitagnacht in Großkahlsdorf – für Monika«. Monika war der Name der Zappamutter. Mick hatte darauf bestanden, ihr diesen Film zu widmen. Als ihr Name auf der Karl-Marx-Städter Leinwand erschien, schrie jemand aus dem Lautsprecher laut: «Yeah!«
Eine Katze lief die Straße entlang, Mücken kreisten um das Licht einer Straßenlaterne. Ein leeres Wartehäuschen. Die Kamera zoomte auf den Fahrplan, der anzeigte, dass der letzte Bus in Richtung Stadt um neunzehn Uhr abgefahren war.
Aus den Boxen ertönten kurze Schreie, mit denen das Publikum in San Francisco die Gitarristen antrieben.
Dazu war in Nahaufnahme eine Schnecke zu sehen, die in dem ihr eigenen Tempo über eine Bordsteinkante kroch. Vor ihr lag die unendliche Weite eines Zebrastreifens.
Die Kamera streifte über die Fassaden der Großkahlsdorfer Reihenhäuser. Hinter den meisten Fenstern war, durch die zugezogenen Gardinen hindurch, das bläuliche Flackern von Bildschirmen zu erkennen. Die Schnecke hatte in der Zwischenzeit den ersten weißen Streifen erreicht.
Das ferne Publikum in San Francisco stöhnte auf.
Die Bilder zeigten Risse im Asphalt, Unkraut zwischen den Fugen der Gehwegplatten, das Erbrochene vor einer verschlossenen Kneipentür und immer wieder die Schnecke, die immerhin die Mitte der Straße erreicht hatte.
Die drei Musiker in San Francisco spielten, als wären sie ein ganzes Orchester. Während die Musik auf ihren Höhepunkt zutrieb, die Töne immer höher und die Tonfolgen immer schneller wurden, blieb die Kamera die ganze Zeit auf die Schnecke gerichtet.
Jetzt stöhnte auch das Publikum in Karl-Marx-Stadt: Die Schnecke hatte ihre Fühler
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