Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
zerrissenen Seegrasmatratze nach. Das Feuer brannte die ganze Nacht hindurch. Als der Morgen anbrach, war das Zimmer leer. Nur in der Mitte standen noch Micks Reisetasche, der Plattenspieler und die Kuchenform mit der eingepackten Etta-James-Platte. Welches Unglück musste geschehen, damit Mick auch diese Platte zerstörte? Es war ungewohnt still. Jeder Schritt hallte. Ohne Bücher und Schallplatten hatte der Raum seine Seele verloren.
An den schmutzigen Wänden zeichneten sich die Umrisse der Regale ab. In den Strahlen der Morgensonne, die durch die fleckigen Fenster fielen, wirbelte Staub. Die Sterne an der Decke waren keine Milchstraße mehr, sondern nur noch Schmutzflecke. Einziges Möbelstück im Raum war die große gusseiserne Badewanne. Mick hatte es nicht geschafft, sie zum Fenster zu schieben. Sie stand, von Büchern befreit, auf ihren grün patinierten Löwentatzen mitten im Raum.
»Wir hätten sie anschließen lassen sollen«, sagte Mick. Es waren die ersten Worte, die er seit drei Tagen sprach. Er war verschwitzt, seine Busfahrerhosen staubig. Mick schwang sich in die Wanne und bedeutete Roswitha, dass sie sich dazusetzen sollte. Vorsichtig stieg sie über den schmutzigen Rand. Sie saßen mit angezogenen Knien. Die Wanne war so groß, dass sich ihre Beine nicht einmal berührten.
Sie schwiegen. Trotz Pullover spürte Roswitha das kalte Metall in ihrem Rücken.
»Lass uns zusammenbleiben«, sagte Mick.
Sie hätte ihn fragen können, wie er das meinte, aber sie schwieg.
5
» SOMETHING DEEP DOWN IN MY SOUL said, cry, girl!« Ihr Körper war wie eine Jukebox, die ungefragt ihre Titel abspielte. Etta James sang, und Roswitha konnte sich nicht dagegen wehren. »I would rather, I would rather go blind, than to see you walk away from me.«
Roswitha zog zurück ins Wohnheim. Sie fühlte sich wie ein entlaufener Hund, von dem erwartet wurde, dass er bei seiner Rückkehr Reue zeigte. Sie hatte den Wohnheimplatz auch noch nach ihren Umzug zu Mick behalten, aber nur sehr selten genutzt. Die Mitbewohner waren froh darüber gewesen, denn in dem nicht einmal zwanzig Quadratmeter großen Raum standen fünf Doppelstockbetten. Nach ihrer Rückkehr fühlte sich Roswitha wie ein Eindringling. Zum Glück fand sich ein freies Bett in Frau Pulvers Zimmer.
Mick, der aus Protest angekündigt hatte, dass er als Obdachloser auf dem Bahnhof wohnen wolle, ließ sich nach einer nächtlichen Ortsbesichtigung samt »Begrüßung« durch die Transportpolizei doch dazu überreden, in sein ehemaliges Zimmer im »Jungstrakt« zu ziehen. Obwohl alle Studenten volljährig waren, gab es eine strenge Geschlechtertrennung. Und Jungfer Lehmann, die Wohnheimleiterin, wachte mit ständigen Kontrollen über die Einhaltung der Hausordnung. Das ging so weit, dass siesich bei nächtlichen Visiten erlaubte, unter den Bettdecken in den Mädchenzimmern nach versteckten Männern zu suchen.
Roswitha waren die Kontrollen egal, denn sie verbrachte, wie in alten Zeiten, ihre Nächte in der »Siebten Hölle«. Doch die Feiern hatten ihre Unbefangenheit verloren. Zwar stand Frau Pulver wie eh und je hinter dem Tresen, zwar las Mick ihnen vor, wenn sie den Klub aufräumten, aber es fehlte die Begeisterung, und in seiner Stimme lag ein bitterer Ton. Die rauschenden Feste blieben aus. Mick war schweigsam geworden. Oft saß er einfach nur in einer Ecke und starrte die Boxen an, als könne er die Musik sehen, die aus ihnen herauskam. Einmal sprang er bei »Paranoid« von Black Sabbath auf, riss eine Box von der Wand und schrie in den Lautsprecher zurück. »I tell you to enjoy life I wish I could, but it’s too late.«
Mick war zornig, auf sich, auf die Welt und vor allem auf das Land, in dem er lebte. Roswitha spürte, dass die einzige Sache, die ihn noch erreichte, Musik war. Ansonsten gab es eine unsichtbare Wand, die niemand durchdrang. Auch nicht Roswitha. Statt fliegen zu lernen, waren sie auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Immer häufiger saß sie mit Frau Pulver nach Mitternacht allein im Klub. Auch Zappa entzog sich der Gruppe. Er arbeitete intensiv an der Bebilderung seines Lieblingstitels »Friday Night in San Francisco« und wollte den Film bis zum Studienende fertigstellen.
Frau Pulver war in mehrfacher Hinsicht unglücklich. Der Schauspielergeliebte war zu seiner Familie zurückgekehrt, und der Umstand, dass nicht sie es war, die sich getrennt hatte, machte ihr zu schaffen. Zum ersten Mal in ihrem Liebesleben war Frau Pulver solo und
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