Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
Vom Netzwerk:
erzählt?«
    »Nein.«
    »Kannst du dir vorstellen, dass es irgendetwas gibt, das ihm die Sprache verschlägt?«
    Malenga schüttelte den Kopf und legte Roswitha die Hand auf die Schulter. »Wir finden ihn. Lass mich nur machen, Schwester! Am besten du kommst am Mittwochabend in den Veteranenklub.«
    »Das klingt wie ›Volkssolidarität‹.«
    »Richtig! Nur eben Harlem Style!«
    »Und mein Rückflug?«
    »Welcher Rückflug?«

6
    » SCHWESTER« – DAS WAR DAS WORT GEWESEN . Aus Spaß benutzten sie es in vielen Sprachen: Sestra, sister, sœur. Frau Pulver und Roswitha hatten sich gegenseitig zu Schwestern gewählt.
    Noch immer litt Frau Pulver unter der Trennung vom Schauspielergeliebten, der, trotz fortscheitender Schwangerschaft, keine Bemühungen zeigte, zurückzukehren. Und auch Roswitha war unglücklich. Sie gab sich die Schuld an dem Verlust der Polsterer-Wohnung und fürchtete, dass Mick es ebenso sah. Hätte sie sich nicht den Fotoapparat widerstandslos aus der Hand nehmen lassen, hätte Mick nicht eingreifen müssen. Und das Allerbeste wäre gewesen, sie hätte gar nicht erst fotografiert. Mit ihrer »Zentrale« im Rücken wäre wenigstens an den Wochenenden alles wie in alten Zeiten geblieben.
    Frau Pulvers Stadt war fremdes Terrain, das sie sich erst erobern mussten. Auch schienen die Treffen in der kleinen Wohnung auf Dauer keine Lösung. Was würde sein, wenn das Baby geboren war? Eine Situation, die sich niemand von ihnen vorstellen konnte, am wenigsten Frau Pulver selbst, die hin und her gerissen war zwischen Vorfreude und Panik. Wie sollte sich alles zusammenfügen: Kind, Arbeit und Nachtleben?
    Frau Pulver war hinter ihrer fröhlich-lauten Fassade tieftraurig. Sie litt. An sich selbst, an der Welt, daran geliebt, zu werden,daran, nicht geliebt zu werden, am Wetter, am Reiseverbot, am Kantinenessen. Aber am meisten litt sie darunter, dass sie so war, wie sie war.
    Frau Pulver hatte einen unüberschaubaren Bekanntenkreis. Kaum war sie in ihre neue Wohnung gezogen, kannte sie alle Nachbarn, alle Verkäuferinnen der umliegenden Läden. Die Autofahrer hupten ihr zu, wenn sie die Straße entlangging. Und doch war Frau Pulver einsam.
»Liebste Schwester,
    ich lebe und liebe hier in dieser tristen Stadt, rase durch die Nächte, gejagt vom Zuspruch dieser irdischen Männer. Ich gebe mich, immer wieder Gas gebend, der kindlichen Begabung hin zu lieben, als Flucht vor winterlicher Einsamkeit. Am Himmel der halbe Mond, die Nacht glüht vor Bitternis, alles schwankt. Ich weiß nicht mehr, wohin ich noch gehen soll. Es ist alles austauschbar. Ich will den Frühling wiedersehen!
    Schreib bald und iss was, und denk daran, dass alles so sein muss und immer so ist. Lilo«
    Für Außenstehende waren es verwirrende Briefe. Für Roswitha aber klare Botschaften, in denen sie sich verstanden fühlte. Losgelöst von ihrem Werksleben saß sie nachts in ihrer Raumkapsel »Kinderzimmer«. Eine sichere Hülle, in der sie tun konnte, wozu sie Lust hatte. Musik hören, Bücherlesen oder Briefe schreiben. In ihrem Kinderzimmer war sie gefeit vor allen »Mahlzeit«- und »Schönes Wochenende«-Verwünschungen. Hier verband sie nichts mit ihrer Alltagswelt. Ganz auf sich zurückgefallen, schwebte sie durch die Nacht. »Hallo Erde, hier ist Mond!«
    Auch Roswitha schrieb Briefe an Frau Pulver. Auch sie hadertemit ihrem Schicksal. Während des Studiums hatte sich ihre Aufmerksamkeit vor allem auf Mick konzentriert. Doch nun, da Mick in eine innere Emigration gegangen war, merkte Roswitha, dass sie jemanden brauchte, mit dem sie reden konnte. Sie war irritiert von dem Leben, das sie jetzt führte. Während der ersten Wochen hatte sie es als eine Theaterinszenierung betrachtet und sich in der Rolle des Zuschauers gesehen. Doch dann begann sie zu begreifen, dass sie in einem Stück mitspielte, das den Titel »Lebenslänglich« trug. Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen, als sie in der Kantine von einer ehemaligen Schulkameradin nach dem obligatorischen »Mahlzeit« freudig gefragt wurde: »Bist du jetzt auch für immer hier?«
    Sie saß in einer Falle. Sie war zur Schule gegangen, sie hatte studiert und war danach, wie vorgesehen, »in die Arbeitswelt eingetreten«. Eine Welt, die sie, sollte nichts Außergewöhnliches passieren, bis zu Beginn des Rentenalters nicht mehr verlassen würde. Bei einem Patienten hätte man gesagt: »Er ist austherapiert.« Die einzig gültige Entschuldigung für die »Entfernung von der Truppe« wäre

Weitere Kostenlose Bücher