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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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ihr nicht, die Neugier zu unterdrücken. Es war ein berührendes Bild. Die Königin saß neben dem Bett des Straußenvogels und hielt seine Hand. Roswitha rechnete aus, dass sich die beiden fast fünfundvierzig Jahre kannten. Die Generation Woodstock war alt geworden. Wäre Janis Joplin nicht im magischen Alter von siebenundzwanzig Jahren gestorben, würde sie in wenigen Wochen ihren siebzigsten Geburtstag feiern. »Sex, Drugs and Rock’n’Roll!« Doch wäre diese Lebenseinstellung bis ins hohe Alter durchzuhalten gewesen? Oder hätte dieser Spruch, mit Rücksicht auf die Gesundheit, heimlich in »Ayurveda, Salat bar und Yogastunde« umgewandelt werden müssen?
    Alte Hippies hatte es in Micks Vorstellungen nicht gegeben. Leider wurde niemand verschont, auch Hippies bekamen Krankheiten, brauchten Brillen, Gebisse und künstliche Hüftgelenke. Nur die Idee war unsterblich. Doc Snyder bangte bei jedem Wetterwechsel um Leonard, der an einer Herzschwäche litt.
    Auch das Haus ächzte im Wind. Was würde mit diesem knarzigen Haus geschehen, wenn alle Gründer der Kommune gestorben waren? Würde es ihnen folgen und eines Tages ebenfalls verschwunden sein? Einfach davongehen, wie das Haus der russischen Hexe Babajaga, das auf Hühnerbeinen durch den Wald laufen konnte? Und wohin würde es gehen? In Richtung Norden an jenen Ort außerhalb der Stadt, an den der Straußenvogel und die Königin nur »beinahe« gekommen waren?
    Roswitha dachte an das Foto auf dem Nachttisch. Das schöne junge Paar, das auf der Straße nach Woodstock ertragen musste, dass ihre Lieblingssängerin mit dem Hubschrauber über sie hinwegflog. Aber vielleicht war es auch ein großes Glück gewesen, denn ohne Stau hätten die beiden ihren Kummer nicht miteinander teilenkönnen und wären niemals auf die Idee gekommen, eine Kommune zu gründen und das alte jüdische Theater vor dem Verfall zu retten. Mithilfe von Freunden hatten sie es zu einem Künstlerhaus mit Armenspeisung gemacht. Noch heute gab es täglich eine warme Mahlzeit für alle Hungrigen, und wenn auch aus Altersgründen die Veranstaltungen etwas weniger geworden waren, fanden in eiserner Tradition immer noch an jedem Mittwochabend eine Lesung und an jedem Freitagabend eine Diskussionsrunde statt. Wer auch immer bedürftig war und an die Tür klopfte, bekam neben einem Essen auch Unterhaltung und Inspiration.
    Roswitha versuchte sich vorstellen, was aus ihnen geworden wäre, wenn Mick die Möglichkeit gehabt hätte, seine Kommune zu gründen. Wie tolerant wären sie gewesen? Hätten sie Fremden Einlass gewährt und neben dem eigenen Spaß noch andere Ziele verfolgt? Im Nachhinein musste sich Roswitha eingestehen, dass sie in allen Plänen, die sie damals gehabt hatten, selbstsüchtig immer nur um sich selbst gekreist waren.
»Liebste Schwester,
    irgendwann werden wir erwachsen sein. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Ich weiß nicht, was ich noch alles tun werde, wenn niemand auf mich aufpasst. Ja, ich sollte ruhig bleiben und die Hände auf meinen wachsenden Bauch legen. Doch so viel auf einmal im Kopf und Liebe und Sehnsucht in den Knochen, da kann ich doch nicht zu Hause sitzen bleiben? War gestern die ganze Nacht im Theaterklub und bin gleich von dort aus arbeiten gegangen. Keine Morgenübelkeit.
    In alter Schwäche,
    Sister Lilo.«
    Frau Pulver konnte es nicht lassen. Wieder einmal hatte sie ihrem Hang zum Theater nachgegeben. Der dazugehörende Kellerklub war Treffpunkt für Schauspieler, Theaterangestellte und Kunstsympathisanten. Nach den Vorstellungen wurde getrunken, geraucht, geredet und die Welt verändert. Zumindest in Gedanken.
    Roswitha kannte den Klub. Ein Jahr zuvor war sie mit Mick, Zappa und Frau Pulver, die damals noch keine Wohnung in der Stadt besaß, dort gestrandet, weil sie vor lauter Begeisterung über das gesehene Stück ihren Zug verpasst hatten. Gute Inszenierungen sprachen sich herum im Land, und es war nichts Ungewöhnliches, dass man für einen Theaterabend einen langen Weg in Kauf nahm. Sie fuhren nach Berlin, um »Dantons Tod« zu sehen, nach Erfurt zum »Baal« und eben auch in die Stadt mit den drei »o« – Korl-Morx-Stod – zu Heiner Müllers »Auftrag«.
    Müller zählte zu Micks Lieblingsautoren, und er nannte ihn vertrauensvoll Heimü. Heimü war nicht besonders beliebt bei den Kulturfunktionären, die gern alle Aufführung seiner Stücke verhindert hätten.
    Doch die Grundlage für den »Auftrag« war die Erzählung »Licht auf dem

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