Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Büro der Hauptbuchhaltung, weil es dort einen großen Tisch gab. Es wurde alles besprochen, das Fernsehprogramm, Familienangelegenheiten, das Eheleben, inklusive der Abrechnung sexueller Vorkommnisse. Zu diesem Zweck hing eine Liste neben dem Frühstückstisch, in die jede Frühstückstischteilnehmerin ihren Beischlaf vom Vorabend eintrug. Jeder Strich wurde kommentiert. Roswitha beteiligte sich nicht an diesem Wettbewerb. Sie wurde am Frühstückstisch geduldet, konnte aber wenig zur Unterhaltung beitragen, da sie weder das Fernsehprogramm kannte, noch Eheprobleme hatte. Die meisten Frauen arbeiteten seit vielen Jahren zusammen und teilten tabulos ihre kleinen und großen Geheimnisse miteinander.
Alle Frauen, einschließlich der Hauptbuchhalterin, trugen im Büro einen Kittel, als bestünde Gefahr, sich am Schreibtisch schmutzig zu machen. Roswitha wirkte in ihrer Jeans wie der Besuch von einem anderen Stern. Auf ihr Fleischerhemd hatte sie, auf Wunsch des Produktionsdirektors, den sie regelmäßig zu seinen Beratungen begleiten musste, mittlerweile verzichtet.
Der Produktionsdirektor war ein großer, kräftiger Mann mit tief liegenden Augen und dunklen Tränensäcken, der immer den Eindruck vermittelte, er habe gerade geweint. Wahrscheinlich hätte er dazu auch allen Grund gehabt, denn wie sich im Laufe der Zeit herausstellte, wurde der Produktionsplan im Traktorenwerk nie erfüllt.
Roswithas Aufgabe war es, den Direktor bei seinen Sitzungen zu begleiten und die Beschlüsse mit den jeweiligen Produktionsabteilungen auszuwerten. Während am Frühstückstisch des »Fußvolks« Tee getrunken wurde, gab es zu den Kombinatsberatungen am Morgen erst einmal ein »Cognäcchen« zum Aufwärmen.Wobei die Bezeichnung Cognac hochgestapelt war, denn meist war es Weinbrandverschnitt und bestenfalls, wenn es die Marktlage hergab, »Goldbrand« oder »Goldkrone«. »Alles gekrönte Häupter hier!«, sagte der Produktionsdirektor und ließ sich ein zweites Glas einschenken. Er musste zu jeder Sitzung die Produktionszahlen vorlegen, und da das ein »trauriges Kapitel« war, trank er noch drittes Glas. Wie ein Parfüm umwehte ihn ständig ein leichter Alkoholgeruch. Wenn Roswitha ihn suchte, musste sie nur in einen Raum hineinriechen, um zu wissen, ob er in der Nähe war.
Zu ihren Aufgaben gehörte es auch, dem Produktionsdirektor »den Rücken freizuhalten«. Was konkret bedeutete, allen Anrufern zu vermitteln, dass er ein viel beschäftigter Mann sei, der nicht gestört werden konnte. Besonders heilig war die Zeit nach dem Mittagessen. Dann hielt der Produktionsdirektor »Zeitungsschau«, was hieß, er machte es sich auf seinem Schreibtischsessel bequem und schlief hinter der geöffneten Zeitung seinen Morgenrausch aus. Sein Privileg war, dass Roswitha über seinen Schlaf wachte und niemanden während dieser Zeit in das Zimmer ließ. Auch die Hauptbuchhalterin, die nur noch wenige Monate bis zur Rente hatte, gönnte sich nach dem Essen ein kleines »Nickerchen«, allerdings unbewacht.
Um nicht überrascht zu werden, hatte sie sich einen ganz besonderen Trick einfallen lassen. Sie ließ ihre Bürotür geöffnet, um jedem einen Blick in den Raum zu gestatten und den Eindruck zu vermitteln, sie sei gerade eben mal aus dem Raum gegangen. Dann machte sie es sich auf zwei Stühlen in der »toten Ecke« zwischen Türflügel und Wand gemütlich. Es war ein unnötiges Versteckspiel, da allen bekannt war, dass sie während der Mittagszeit hinter ihrer Tür schlief. Zudem wäre es klüger gewesen,sie hätte die Tür geschlossen gehalten, denn ihr Schlaf war nicht immer geräuschlos.
»Der Büroschlaf ist der gesündeste« war die erste Weisheit, die Roswitha lernte. Die zweite: »Privat geht vor Katastrophe«. Keine Arbeit war so wichtig, dass man sie nicht wegen einer privaten Angelegenheit verschieben konnte. Umgekehrt galt dieser Spruch nicht. Die Pausenzeiten waren heilig, egal, was passierte. Es war eine fremde Welt. Hätte sie das absurdeste Wort aus ihrem neuen Sprachschatz wählen sollen, dann wäre es »Mahlzeit« gewesen. Gab es diesen Begriff eigentlich in anderen Sprachen?
Wenn Roswitha während der Mittagszeit über den Gang lief, rief ihr jeder, egal, ob sie zur Kantine ging oder nicht, ein »Mahlzeit« entgegen. Mahlzeit! Mahlzeit! Mahlzeit! Am liebsten hätte sie mit »Prost« geantwortet. »Prost Mahlzeit«, das war die einzige Formulierung, in der sie das Wort Mahlzeit gelten ließ. Der Höhepunkt war das Betreten
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