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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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dazu, im Anschluss die besprochenen Dinge auszuwerten. Und so zogen es Roswitha und Mick vor, sich gegenseitig in Telefonzellen anzurufen. Jeder Münzfernsprecher hatte eine eigene Nummer. Sie verabredeten sich zu einer bestimmten Zeit in jeweils einer bestimmten Telefonzelle. Leider waren die Versuche nur selten von Erfolg gekrönt, denn entweder war eine der beiden Zellen besetzt, die Leitung gestört oder der Apparat kaputt.
    Manchmal schrieb Roswitha auch einen Brief an Mick, aber der antwortete nur sporadisch und wenn, dann bestenfalls mit einer Postkarte. Es waren ausgewählte Motive, wie zum Beispiel das Porträt eines bekannten »Polizeiruf«-Kommissars mit der Bemerkung: »Werde wie er!«
    Es blieb Frau Pulver. Sie schrieben sich fast jede Nacht einen Brief, ohne die jeweilige Antwort abzuwarten. Auf die Post war sowieso kein Verlass. Manche Briefe waren eine Woche lang unterwegs, oft kamen mehrere Briefe gleichzeitig an, und Montag war generell immer ein postfreier Tag. Wenn sie Zeit hatten, zum Postamt zu gehen, schickten sie die Briefe per Eilboten, und wenn das Geld reichte, leisteten sie sich auch ein Telegramm. Doch sie schrieben nicht wie sonst üblich: »Ankomme Freitag 20 Uhr« oder »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sondern: »Es ist Herbst. Stop. Auch dir warme Mollsonaten! Stop«
    Und Frau Pulver, die zunehmend einen Hang zu Zitaten entwickelte, telegrafierte mit Unterstützung Friedrich Nietzsches:
    »Es gibt nichts Größeres, als jeden Tag einen Glauben zu verlieren! Stop.
    Von meiner Trauer dabei spricht niemand. Stop.
    Schwester Lilo«
    Roswitha ging so oft zur Post, dass die Frauen am Telegrammschalter zu tuscheln begannen, wenn sie die Halle betrat. Denn natürlich waren die Frauen neugierig und lasen beim Wörterzählen den Text mit, und es war ihnen anzusehen, dass sie Roswitha für verrückt hielten. Auch der Telegrammbote behandelte Roswitha wie eine Patientin und verriet sich, indem er ihr die Telegramme mit der Bemerkung überreichte: »Wieder von ihrer Schwester!«
    Roswitha lief zurück zur 125. Straße. Sie versuchte, sich möglichst gelassen zu bewegen. Jetzt ging sie zum Ticketautomaten, jetzt zog sie das Ticket durch die Kontrollschiene, jetzt öffnet sich die Sperre. Es waren die kleinen Verrichtungen, die ihr das Gefühl gaben, dazuzugehören und zu vergessen, dass sie allein in einer fremden Stadt war.
    Als sie zurück ins »Shelter Park House« kam, hing ein Zettel an ihrer Tür, sie solle sich bei Doc Snyder melden.
    »Dein Freund war da!«
    »Mein Freund?« Roswitha merkte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte.
    »Na, der mit den Cowboystiefeln.«
    »Ach so.«
    »Er will sich heute Abend mit dir treffen.
    Und dann sollst du zu Janis kommen, wegen deiner Flugumbuchung.«
    »Woher weiß sie, dass ich umbuchen will?«
    »Willkommen in der größten Kleinstadt der Welt!«, sagte Doc Snyder und grinste.
    Das Haus hatte nur ein Telefon, einen riesigen Apparat, der im Souterrain an der Wand neben dem Speiseraum hing. Klingelte es, nahm ab, wer in der Nähe stand, und rief den Namen des Gewünschten durch das ganze Haus. Es erinnerte Roswitha an die Versuche, sich in einer Telefonzelle anzurufen.
    Die Königin selbst schritt zum Akt der Umbuchung. Sie hatte sich die Telefonnummer auf einen Zeitungsrand geschrieben, hielt das Blatt mit ausgestreckten Armen in Augenhöhe und rief Roswitha die Zahlen zu. Zwei, fünf, acht, nein sechs. Zwei, fünf, sechs, null, nein neun. Als es endlich geschafft war und sich am anderen Ende eine Mitarbeiterin der Fluggesellschaft meldete, war alle Unsicherheit verflogen. Die Königin tat, als wäre sie die Besitzerin von United Airlines. So schwierig es gewesen war, in dieses Land hineinzukommen, so einfach war es jetzt zu bleiben. Problemlos verschob die Königin Roswithas Flug auf den kommenden Montag. Simsalabim: Und vor Roswitha lag eine neue endlose Woche. Sie war froh, dass sie sich die Tage nach ihrer Rückkehr wegen des zu befürchtenden Jetlags freigehalten hatte. So würde es keine Probleme mit der Agentur geben.
    Erleichtert gönnte sich Roswitha eine Verschnaufpause auf dem Dach. Die Luft war immer noch mild und suggerierte Spätsommer. Nur der Wind war stärker geworden. Doc Snyder hatte ihr erzählt, dass von Süden her ein Sturm heranzog. Roswitha setzte sich in eine windgeschützte Ecke. Von ihrem neuen Platz aus konnte sie durch das geöffnete Fenster in Leonards Zimmersehen. Obwohl sie sich voyeuristisch vorkam, gelang es

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