Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
der Kantine. Jeder sagte es zu jedem, und da ständig jemand neu hinzukam, sirrte die Luft im Raum vor lauter »Mahlzeit« und es war schwer, den Löffel mahlzeitfrei zum Mund zu führen.
Die zweitschlimmste Formulierung war »Schönes Wochenende!«. Im bisherigen Leben von Roswitha hatte es keine Zeiteinteilung in schöne und unschöne Tage gegeben. Niemand sagte: Schönen Mittwoch! Oder: Schönen Donnerstag! Alle im Werk teilten ihr Leben in zwei Welten. In die Werktagwelt und in die Schönes-Wochenende-Welt. Und das Grausame daran war, auch Roswitha lebte nach dieser Einteilung.
Sie sah Mick nur an den Wochenenden. Und da Mick noch immer nicht seine Likörschuld bei der Zappamutter abgetragen hatte, blieb nur die Wohnung von Frau Pulver als Treffpunkt. Frau Pulver hatte überraschend das Privileg einer eigenen Wohnungbekommen. Der Grund dafür war die noch größere Überraschung: Frau Pulver war schwanger, eine letzte Gabe ihres Schauspielergeliebten. Noch größer als der Schock über die Schwangerschaft, die sie so spät bemerkt hatte, dass die Möglichkeit einer Abtreibung ausfiel, war die Furcht, in Zukunft mit ihrem Baby bei ihren Eltern leben zu müssten. Frau Pulvers Mutter war Wehrkundelehrerin und verlangte auch zu Hause Disziplin, Ordnung und Kampfbereitschaft. Manchmal im Wohnheim hatte Frau Pulver vor dem Spiegel gestanden und gejammert: »Ich sehe aus wie meine Mutter!« Frau Pulver fürchtete sich davor, nach Hause zurückzukehren. Doch sie hätte sich nicht dagegen wehren können, denn sie war von ihrem Betrieb zum Studium delegiert worden und hatte einen Vertrag unterschrieben, der die Rückkehr einschloss. Und so schien es wie ein Lottogewinn, dass ihr das Wohnungsamt in Anbetracht ihrer Schwangerschaft eine kleine Dachwohnung zubilligte. Das war die Rettung, nicht nur für Frau Pulver.
Wenn sich am Freitagnachmittag um vier Uhr das Werktor hinter Roswitha schloss, gab es nur eine Richtung: zum Bahnhof. So es die Reichsbahn wollte, war Roswitha am frühen Abend bei Frau Pulver. Zappa kam meist mit dem Auto seiner Mutter. Am unpünktlichsten war Mick, für den als einzig gültige Fortbewegungsform das Trampen infrage kam.
Sie waren glücklich, nach einer Arbeitswoche wieder zusammen zu sein, redeten, hörten Musik und betranken sich, ausgenommen Frau Pulver. Sie litt etwas unter ihrer Schwangerschaft und sagte: »Das Beste am Abend wäre, dass man keine Morgenübelkeit hätte.«
Auf der Straße vor dem Restaurant hielten zwei Polizeiautos. Schlagartig ließ der Gitarrist sein Instrument fallen und rannte nach draußen. Roswitha erschrak. Was war los? Eine Razzia? Ein Überfall? Doch Malenga lachte. »Sein Auto steht im Parkverbot. Das ist alles!«
Ohne Musik waren plötzlich alle Stimmen zu hören. Am Eingang redete eine ältere Frau im Pelzmantel laut auf den Kassierer ein.
»Sie beschwert sich, dass sie nicht, wie an jedem Sonntag nach der Messe, hier essen kann, weil viele Plätze von Touristen besetzt sind«, sagte Malenga.
»Sie sollte sich doch freuen, dass alle nach Harlem kommen!«
»Für viele ist es aber nur Folklore; sie kommen hierher wie in einen Zoo. Es gibt Busreisen zur Baptistenmesse, Busreisen zum Soulfood-Buffet, Busreisen zur Amateursnight im Apollo. Besonders beliebt sind nächtliche Busfahren durch Harlem. Viele nehmen das als Gruselreise und geben damit zu Hause an.
Hier im Restaurant wurden zum Beispiel früher während des Sonntagsbrunch nur Gospelsongs gesungen, jetzt hat sich die Musik dem Touristengeschmack angepasst.«
Als wollten sie diesen Makel beseitigen, stimmten die zurückgekehrten Musiker »Go tell it on the mountain« an. Und passend dazu erschien auf dem großen Bildschirm über der Kasse Barack Obama und hielt eine Rede. Seine Körpersprache wirkte entschlossen, fast kämpferisch.
»Wird er es schaffen?«
»Ich denke schon! Du wirst es nächste Woche erleben.«
»Nächste Woche bin ich nicht mehr hier. Ich habe nur noch drei Tage.«
»Dann fliegst du eben später! Hast du nicht auch immer vonAmerika geträumt? Da kannst du doch nicht nur für eine Woche kommen.«
»Ich habe den Flug schon gebucht.«
»Dann buchst du eben um. Wo ist dein Problem?«
»Ich weiß sowieso nicht, wo Mick ist.«
»Warum willst du ihn eigentlich sehen?«
»Gute Frage. Als ich losgeflogen bin, habe ich es noch gewusst.«
»Und jetzt?«
»Bin ich mir nicht mehr sicher. Seit Tagen plagen mich Erinnerungen. Hat er dir mal von Frau Pulver
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