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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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die Geburt eines Kindes gewesen, aber auch das hätte jeweils nur wenige Monate »Luft« gebracht, und bei siebenunddreißig Jahren bis zum Rentenalter erschien diese Lösung auch nicht sehr verlockend.
»Ach, Schwester!
    Es ist die Zeit der verlorenen Siege. Wir sind machtlos, also die Macht los – über uns. Das Begreifen wird vom Wahnsinn gejagt.
    Was verlangen wir eigentlich? Ein Leben, das alles einteilt und uns in Schubfächer steckt, sauber beschriftet? Heute das Fach gute Laune, morgen das Fach besoffen, das Fach Liebeselten und nur wenn’s keiner sieht? Immer den passenden Schlüssel in der Tasche, DAS wünschen wir uns doch. Und wenn dann das Fach, in das wir uns überraschend selbst gelegt haben, unwiderruflich zuschnappt, dann stinkt’s im Schrank – und keiner hat einen Dietrich. Dann haben wir uns endlich festgelegt. Verdammt! Warum kann ich nicht normal sein wie alle anderen?«
    Für »die anderen« war das Betriebskollektiv eine zweite Familie. Durch die jahrelangen Frühstücksrunden war eine Vertrautheit entstanden, auf die manche Ehepartner neidisch sein konnten. Niemals wurde ein Geburtstag vergessen, jeder kannte die Lieblingsspeisen des anderen, es wurden Geldsorgen besprochen, Liebeskummer, Ausbildungspläne für die Kinder, Ehestreitigkeiten, Versöhnungsnächte. Und bevor ein Ehemann erfuhr, wohin er im Sommer in den Urlaub fuhr, wusste es das Betriebskollektiv. Es war eine Bigamie im Geiste. Alle hatten sich eingerichtet. Die Hauptbuchhalterin hatte ihre Schlafecke hinter der Tür, die Sekretärin ihr Strickzeug im Schreibtisch und der Produktionsdirektor seinen Aktenschrank voller Schnapsflaschen.
    Am Nachmittag war die Stunde des Eierlikörs. Im Unterschied zu allen anderen Kollegen hatte es der Produktionsleiter nie eilig, nach Hause zu kommen. Wer seine Ehefrau kannte, wusste, warum. Sie war eine hagere Frau, für deren Gesichtsausdruck der Begriff »verbissen« zu harmlos gewesen wäre. »Das Gesicht zur Faust geballt« traf es schon besser, und niemand wäre verwundert gewesen, wenn sie Feuer gespien hätte. Seit dem Auszug ihrer beiden Kinder verfolgte sie nur noch ein Ziel: die Erziehung ihres Ehemannes. Als Roswitha ihm einmal wichtige Unterlagen nach Hause bringen musste, bedurfte es einigerÜberredungskunst, bis sie von dem Drachen ins Haus gelassen wurde. Es war ein trauriges Bild. Der Produktionsdirektor saß in Strickjacke und Filzpantoffeln einsam in der Sitzecke »Giebichenstein« und trank eine Tasse Pfefferminztee.
    Am späteren Nachmittag fand der Produktionsdirektor immer einen Grund, Roswitha in sein Büro zu rufen. Und obwohl sie wie alle anderen auch darauf wartete, dass endlich »schöner Feierabend« wurde, konnte sie sich seinen Wünschen nicht entziehen. Beim ersten Mal war sie völlig naiv in die Falle getappt und hatte seine Frage »Trinken Sie einen Eierlikör mit mir?« leichtfertig mit »Ja« beantwortet. Zwar mochte sie keinen Eierlikör, aber ein Gläschen würde nicht schaden und wäre schnell getrunken. Sie bemerkte ihren Fehler, als sie sah, wie der Produktionsdirektor Saftgläser aus dem Schrank holte.
    Ein Saftglas voll Eierlikör auszutrinken kostet Überwindung und Zeit. Diese Zeit nutzte der Produktionsdirektor, um aus seinem Leben zu erzählen. Er zog ein abgegriffenes Foto aus seiner Brieftasche. Zu sehen waren zwei junge Männer in Pfadfinderuniform. »Raten Sie mal, welcher ich bin.« Es war eine Fünfzig-Prozent-Chance. Er freute sich wie ein kleiner Junge, als sie falsch riet. Er erzählte aus seiner Jugend, von seinen Harzwanderungen, seinem Studium in Göttingen, der Rückkehr zu seinen Eltern nach Sachsen. Die Erinnerung endete immer mit seiner Hochzeit.
    »The same procedure as every afternoon!« Der Ablauf war jedes Mal gleich. Der Produktionsdirektor holte die Saftgläser aus dem Rollschrank, goss sie randvoll mit Eierlikör und zog das abgegriffene Foto aus seiner Brieftasche. »Raten Sie mal!« Manchmal, wenn Roswitha Mitleid mit ihm hatte, tippte sie falsch.
    Mit Mick konnte sie über diese Dinge nicht reden, für ihn war die Absolventenzeit nur eine ungeliebte Lebensetappe auf seinem Weg nach Amerika. Je länger sie getrennt waren, desto intensiver lebte er in seinen Träumen. Sie sahen sich nur an den Wochenenden bei Frau Pulver, und wenn es sich ergab, telefonierten sie. Die Betriebstelefone waren nur bedingt geeignet. Zwar hatte niemand etwas gegen Privatgespräche, im Gegenteil. Die Bürogemeinschaft hörte gern mit und neigte

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