Wenn du lügst
dann. Wie verwirrend. Das sollte er nicht tun. Sie musste sich einen anderen Job besorgen, irgendwo, wo man sie nicht »davor« gekannt hatte. Sich nur vorzustellen, wie viel Kraft das erfordern würde, erschöpfte sie bereits.
Sie machte sich an die Zahlen, die vor ihr lagen. Sie wusste, dass dies der Job eines Buchhalters war, dieses Überprüfen von Aufträgen, Versendungen und ihre anderen untergeordneten Verwaltungsaufgaben. Was genau der Grund war, weshalb sie darum gebeten hatte. Die Büroleitung war eine zu komplexe Aufgabe geworden. Es mussten zu viele Entscheidungen getroffen werden. Eines Tages hatte sie begriffen, dass es zu schwer war, zur Arbeit zu kommen und all diese Entscheidungen treffen und, noch schlimmer, mit Menschen reden zu müssen. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern war unerträglich gewesen, fast so schlimm, wie in einen Spiegel zu schauen, was sie Gott sei Dank schon seit einem Jahr oder vielleicht länger nicht mehr getan hatte. Sie
konnte sich nicht mehr genau entsinnen, wann sie aufgehört hatte, in den Spiegel zu sehen.
Zahlen waren anders. Eine Art stiller Sicherheit überkam sie, wenn sie Zahlen addierte. Am Ende des Tages musste exakt das Richtige herauskommen, andernfalls konnte sie nicht heimgehen. Einmal war sie zwei Stunden länger geblieben und hatte zu Hause dafür bezahlt. Zumindest hatten ihre Ergebnisse schließlich gestimmt, sonst wäre sie die ganze Nacht hier gewesen.
In letzter Zeit hatte sie sich angewöhnt, die Auftragsformulare und anderen Papiere so anzuordnen, dass sie genau mit der seitlichen und unteren Schreibtischkante abschlossen. Nicht einen Millimeter darüber. Das half ebenfalls. Außer an manchen Morgen, wenn sie feststellte, dass sie leicht bewegt worden waren, was sie unheimlich fand. Sie versuchte, sich vorzustellen, dass es die Putzfrau gewesen war, und nicht Jerry, der in ihren Sachen herumschnüffelte, so wie er es zu Hause tat. Er könnte es sein. Bei ihm wusste man nie. Einmal hatte sie eine Liste gefunden, auf der er alles notiert hatte, was sie besaß, einschließlich der Zahl ihrer Tampons. Er beobachtete alles, schrieb alles auf.
Manchmal versuchte sie, sich ein Leben ohne ihn vorzustellen, aber diese Aussicht schien sie mit Leere zu erfüllen. Es war leicht, sich einzureden, dass alles in Ordnung sein würde, dabei würde er in Wirklichkeit eine riesige Lücke hinterlassen. Sie fühlte sich schon seit Langem nicht mehr wie ein lebendiges Wesen, und er war, wenn auch sonst nichts, zumindest real. Und dann waren da noch die Drogen. Wie sollte sie ohne ihn an sie herankommen? Also durfte er nicht gehen. Dann würde
sie allein mit Lily zurückbleiben, die ständig irgendetwas brauchte. Chauffeurdienste zu ihren Freunden. Unterschriften unter Zeugnisse. Einkaufen. Elternabende. Wie sollte sie diese Dinge an den schlechten Tagen bewerkstelligten? Sie hatte viele schlechte Tage.
Manchmal versuchte sie sich an ihr Leben vor Lily zu erinnern. An ihr Leben, bevor sie dafür Sorge tragen musste, dass Essen im Haus, saubere Kleidung im Schrank und an jedem Tag des Jahres jemand zu Hause war. An das Leben, als sie sich einfach ihren Rucksack schnappen und klettern gehen konnte. Sich zu erinnern, war keine gute Idee. Es brachte Lilys Vater zurück und den Morgen in den Bergen, als regennasse Flechten die Felsen spiegelglatt hatten werden lassen und er einen Schritt nach vorn machte, bevor er vollständig gesichert war …
Sie schloss die Augen, dann starrte sie wieder auf die Zahlen. Es war unsinnig, darüber nachzudenken, Jerry zu verlassen. Ihn zu verlassen war ausgeschlossen, denn Jerry wäre als ein Schatten, der vor ihrer Tür lauerte, noch furchteinflößender, als er es im Haus war. Konnte das die Wahrheit sein? Es stimmte, dass er noch gefährlicher wäre, aber furchteinflößender? Das setzte voraus, dass sie noch immer Furcht empfinden konnte, und sie glaubte nicht, dass das zutraf. Oder vielleicht fürchtete sie sich auch die ganze Zeit über, also war da kein Unterschied. Von welcher Warte man es auch betrachtete, war das, was sie empfand, stets dasselbe. Vielleicht würde jemand wie Dave es als Furcht bezeichnen. Es war eigentlich nicht von Bedeutung, in welche Worte man es verpackte. Eins jedoch war gewiss: Sie hatte vergessen, wie es war, sich sicher zu fühlen.
Sie sah wieder auf das Blatt vor sich, stellte fest, dass sie vor lauter Nachdenken den Überblick über die Zahlen verloren hatte, und geriet in Panik. Zumindest konnte sie
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