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Wenn du lügst

Wenn du lügst

Titel: Wenn du lügst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Salter
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noch Panik empfinden. Wegen falscher Berechnungen, wegen Schuhen, die - selbst im Schrank - nicht ordentlich in Reih und Glied standen, wegen Besteck, dass nicht perfekt auf dem Tisch angeordnet war. Was vermutlich verrückt war. Kein Zweifel, dass Breeze es so sehen würde. Sie wollte darüber nicht nachdenken. Es war unwahrscheinlich, dass Breeze sie auch nur erkennen würde, wenn sie sich begegneten. Gott sei Dank hatte sie nur angerufen. Man kann niemand durch das Telefon sehen.
    Schon vor dem Anruf hatte sie manchmal an Breeze denken müssen. Wenn ihr Gefühl, ein echter Mensch zu sein, verblasste und sie keine Perspektive, keinen Standpunkt finden konnte, heuchelte sie sich selbst vor, Breeze zu sein. Sie hatte während ihrer Kindheit eine einzige Freundin gehabt, und die war noch immer real, während ihr restliches Leben zu einem Mythos verblasst war.
    Sie hatte Breeze’ Telefonnummer schon vor langer Zeit mit wasserfestem Filzstift auf der Innenseite ihrer Armbanduhr notiert. Es hatte sie einige Mühe gekostet, einen Stift mit so feiner Spitze zu finden. Sie hatte es jedoch geschafft, und jetzt war die Nummer Tag und Nacht da. Sie nahm die Uhr niemals ab. Sie duschte mit der Uhr. Immer wenn die Zahlen zu verblassen begannen, schrieb sie sie neu.
    Was auch immer Jerry ihr antat, nie hatte er ihr dabei die Uhr abgenommen. Sie redete sich gern ein, die Nummer im Kopf zu haben, aber manchmal, wenn er
ihr Schmerzen zufügte, konnte sie sich kaum an ihren eigenen Namen erinnern, deshalb vertraute sie nicht darauf, eine Telefonnummer auswendig zu kennen.
    Seltsam, zu welcher Größe Breeze in ihrem Kopf angewachsen war. Nachdem sie aus Clark fortgegangen war, hatte sie daran gedacht, sich bei ihr zu melden, es aber dann doch nie getan. Sie war durch die Reisen und das Bergsteigen fast die ganze Zeit über auf Achse gewesen, und außerdem, nun ja, sie telefonierte einfach nicht besonders gern. Aber in Wahrheit wusste sie nicht, warum sie nie angerufen hatte. Vielleicht, weil sie Clark und den Süden hinter sich gelassen hatte und davor zurückgeschreckt war, diese Tür auch nur einen Spaltbreit wieder aufzumachen.
    Breeze’ Anruf - das war nicht Teil des Plans gewesen. Wenn sie mit ihr gesprochen hätte, wäre Breeze gekommen. Niemals hätte sie Breeze täuschen können … Und was dann? Was wäre dann geschehen? Sie würde keine Vorschläge machen wie Dave oder jammern wie Lily. Sie würde es nicht auf sich beruhen lassen und einfach weggehen. Wahrscheinlich würde Jerry sie beide töten. Und selbst falls nicht, war nicht mehr genug von ihr selbst übrig für einen Neuanfang.
    Und trotzdem konnte sie diese Telefonnummer nicht aufgeben. Ich könnte fortgehen, besagte sie. Solange Jena sie hatte, gab es ein Hintertürchen. Da war noch ein winziger Raum in ihr, den Jerry bislang nicht erreicht hatte. Er wusste es ebenfalls, dass ihm ein Raum verschlossen blieb. Was er jedoch nicht wusste, war, wo sie den Schlüssel aufbewahrte: auf der Rückseite ihrer Armbanduhr.

kapitel 5
    Am späten Nachmittag kam ich endlich in Chicago an. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, abends zu Jenas Haus zu fahren, deshalb beschloss ich, bis zum Morgen zu warten, wenn die Gefahr, dass ihr Ehemann zu Hause sein würde, geringer schien. Ich hatte keinen Plan B für den Fall, dass Jena ebenfalls nicht da sein würde.
    Ich schlief früh ein - in einem Motel am Stadtrand -, aber der Schlaf war nicht erholsam. Die ganze Nacht über erklommen Jena und ich den K2, der schwerer zu besteigen ist als der Everest und von dem die Profis sagen, dass er einfach anders sei. Der Everest hat seine Launen, aber den K2 umgibt eine heimtückische Aura - zumindest behaupten das die Bergsteiger -, als wäre er von Natur aus bösartig. Besonders gerne tötet er weibliche Bergsteiger und tut dies mit grausamer Regelmäßigkeit. Er tötet einen höheren Prozentsatz an Frauen, die versuchen, ihn zu bezwingen, als jeder andere Berg.
    Jena und ich befanden uns in der Todeszone, jener Region oberhalb von siebentausendfünfhundert Höhenmetern, wo der Körper sich nicht mehr akklimatisieren kann und die Organe allmählich den Dienst versagen, wo die Luft so dünn ist, dass man nicht lange am Leben bleibt. Während der ganzen Zeit, die man in der
Todeszone verbringt, stirbt man langsam. Bleibt man zu lange, ist man am Ende tot - so einfach ist das.
    Jena kletterte mir voraus einen messerscharfen Grat hinauf, der mit Eis und Schnee bedeckt war. Mit jedem einzelnen

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