Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
Wie grausam musste jemand sein, um dem Leiden eines anderen so lange stumm zuzusehen?
Wut schwelte wie ein kleines Stück Kohle tief in meinem Innern. Auf einmal empfand ich Dankbarkeit, weil alles darauf schließen ließ, dass dieser Sadist Joshua und mich anscheinend nicht zusammen gesehen hatte.
» Warum habe ich dich nie zu Gesicht bekommen?« Ich versuchte gelassen zu reden und wählte meine Worte sorgfältig, um so wenig wie möglich preiszugeben.
» Nun«, sagte er, » du warst immer zu verloren, zu blind, um zu wissen, dass ich da war, manchmal direkt neben dir. Abgesehen von diesen eigenartigen Zeiten, wenn du ganz unvermittelt verschwunden bist und ich dich anschließend aufspüren musste.«
Ich atmete leise voll Erleichterung aus. Er konnte mir nicht in meine Albträume folgen. Seltsam, dass ich jetzt die Einsamkeit zu schätzen wusste, die sie mir gewährten. Glücklicherweise fiel ihm meine veränderte Miene nicht auf, sondern er fuhr mit seinen Erläuterungen fort.
» Du musst wissen, Amelia, es war eine ziemliche Überraschung zu sehen, wie du dich heute Abend umgedreht hast. Weißt du, der Wind, den du eben gespürt hast, ist … na ja, eine Art übernatürliche Ankündigung meines Auftritts. Vielleicht meine Visitenkarte.« Er lächelte, beinahe stolz. » Du warst immer zu ahnungslos, um den Wind zu spüren, genauso, wie du mich noch nie zuvor gesehen hast. Aber jetzt tust du es.«
» Ja«, sagte ich tonlos. » Jetzt tue ich es.«
Er seufzte. » Dann befinde ich mich offensichtlich in einem Dilemma.« Er hielt inne, wohl in der Hoffnung auf irgendeine Reaktion meinerseits. Ich starrte ihn schweigend an, wobei ich mich zwang, nicht wütend dreinzublicken.
» Mein Dilemma, Amelia, ist kompliziert: Was mache ich jetzt mit dir?«
Ich zuckte zusammen. » Was meinst du?«
Er seufzte wieder und zog den Moment absichtlich theatralisch in die Länge. » Mittlerweile gucke ich dir richtig gern dabei zu, wie du durch die Gegend stolperst. Aber jetzt, da du wach und bei Bewusstsein bist, kann ich dich im Grunde nicht mehr herumwandern lassen. Regeln sind Regeln. Also, wie schon gesagt: Was genau mache ich jetzt mit dir?«
Ich widerstand dem starken Drang, ihn anzuschreien, dass er nichts mit mir tun würde, und zwar niemals. Plötzlich war ich überhaupt nicht mehr wütend, dass er mich nicht aus dem Nebel gezogen und mir meine Wesensart erläutert hatte. Ich hatte bloß einen unangenehmen Geschmack im Mund bei dem Gedanken, dass er mir überhaupt so nah gewesen war. Doch anstatt diesen Gedanken Ausdruck zu verleihen, antwortete ich leise und gelassen: » Wie heißt du?«
» Im Leben lautete mein Name Eli.«
» Und im Tod?« Es gelang mir nicht, eine Spur von Groll in meiner Stimme zu unterdrücken.
» Eli reicht völlig«, sagte er.
» Ich glaube, ich habe eine Lösung für dein Dilemma, Eli.«
» Wunderbar. Würdest du sie mir mitteilen?«
» Tja, Eli, so wie ich das sehe, spüre ich diesen Wind jetzt. Er gehört nicht zu den Dingen, die sich leicht verbergen lassen, nicht wahr?« Ich lächelte süßlich, gab mir aber alle Mühe sicherzustellen, dass mein Hohn so unverhohlen wie möglich war. » Folglich ist es logisch, dass du mich nicht mehr unangekündigt beobachten können wirst, stimmt’s?«
Eli hatte die Stirn tief in Falten gelegt. Ihm war anzusehen, dass er keine schlagfertige Antwort parat hatte, keine Möglichkeit, meine Logik zu entkräften. Innerlich frohlockte ich. Anscheinend gab es keinerlei Hintertürchen, die ihm erlauben könnten, mich weiterhin unbemerkt zu beobachten.
Nach einer langen Pause seufzte Eli und lächelte. Vielleicht war es nur Einbildung, aber sein Lächeln sah viel weniger großspurig aus als zuvor.
» Ja, Amelia, du hast recht. Fortan wirst du dir meiner Besuche stets bewusst sein.«
» Prima. Da wir das geklärt haben, würde ich es zu schätzen wissen, wenn du diese Besuche fortan auch einschränken würdest.«
Ein Schatten schien über sein Gesicht zu huschen. » Was willst du damit sagen, Amelia?«
» Ich will damit sagen, dass ich weiß, was du mit mir › tun‹ kannst, Eli.« Ich setzte ein breites Grinsen auf. » Was du tun kannst, ist, mich in Ruhe zu lassen. Für immer.«
Auf der Stelle runzelte Eli die Stirn noch heftiger, und seine Lippen kräuselten sich, bis er wie ein Tier aussah, das die Zähne fletschte. Ich rechnete halb damit, dass er knurren würde, und zuckte unwillkürlich zusammen.
Offensichtlich entging ihm meine furchtsame
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