Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
umzusehen, während ich ihm mühelos folgte. Vielleicht war ich für ihn wieder fremd, anders – tot. Im Moment war mir das völlig egal. Er würde leben. Er würde nicht in diesem kalten, nassen Abgrund sterben wie ich. Das reichte völlig.
Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis er die Oberfläche des Flusses durchbrach, doch es gelang ihm. Er würgte in der Nachtluft und hustete und rang nach Atem, wobei er wild mit den Armen schlug, als versuche er wegzufliegen.
Ich trieb neben ihm, völlig unberührt von der Strömung und den aufgepeitschten Wellen, die seine Bewegungen verursacht hatten. Als er tief Luft holte, lachte ich tatsächlich laut auf und klatschte in die Hände. Dann schlug ich mir die Hände vor den Mund. Ich hatte nie gelacht. Kein einziges Mal seit meinem Tod.
» Josh! Josh!«
Die unbekannte Stimme erschreckte mich. Jemand hatte über den Fluss zu uns herübergerufen. Na ja, eigentlich zu dem Jungen. Ich wandte mich, beinahe widerwillig, von ihm ab und erblickte eine Gruppe Gestalten am Flussufer hinter uns.
» Josh!«, schrie eine Mädchenstimme. » Um Himmels willen, Josh, bitte! So helft ihm doch!«
Ich wandte mich dem Jungen zu, der immer noch hustete und mit den Armen fuchtelte.
» Josh?«, fragte ich. » Bist du Josh?«
Er antwortete nicht.
» Tja, Josh oder nicht Josh, ich weiß, dass du müde bist. Gott weiß, dass ich es weiß. Ich weiß, dass du mich wahrscheinlich auch nicht hören kannst. Aber du musst auf die Stimmen da zuschwimmmen. Verstehst du?«
Eine Sekunde lang reagierte er nicht. Dann bewegte er mit schmerzlicher Langsamkeit die Arme. Die Bewegungen ließen sich nicht unbedingt als Schwimmen bezeichnen, doch sie reichten aus, um seinen Körper Stück für Stück durch das Wasser zu befördern.
Als er sich dem Ufer näherte, wurden die Rufe lauter. In dem Geschrei konnte ich fast einen vernünftigen Gesprächsfaden ausmachen: den Plan, ihn aus dem Fluss zu ziehen.
Doch im Grunde hörte ich den Leuten am Ufer nicht zu. Ich beobachtete den Jungen beim Schwimmen, und zwar genauer, als ich jemals in meinem ganzen Dasein etwas beobachtet hatte. Ich betete sogar, das erste Mal seit meinem Tod. Betete, dass er es sicher ans Ufer schaffen würde, betete, dass er nicht aufgäbe, sich nicht von der Strömung mitreißen ließe.
» Bitte«, flüsterte ich, während ich ihm folgte. » Bitte, lass es ihn schaffen.«
Wie sich herausstellte, war der Junge viel stärker, als ich es je gewesen war. Etliche weitere qualvolle Minuten kämpfte er sich durch die Strömung. Schließlich war er so nahe, dass ihn jemand am Arm packen, mit ihm ans Ufer schwimmen und ihn aus dem Wasser zerren konnte.
Freudenschreie wie auch Angstrufe erhoben sich aus der Menge, die sich auf der grasbewachsenen Böschung und der Brücke über uns versammelt hatte. Der Mann, der den Jungen aus dem Fluss gezogen hatte, ließ ihn ausgestreckt auf den schlammigen roten Boden sinken, und als ich mich aus dem Wasser erhob und ans Ufer ging, sah ich, wie er mit flatterigen Händen nach einem Lebenszeichen des Jungen suchte.
Plötzlich wälzte sich der Junge auf die Seite, hustete und spuckte Wasser. Hörbare Seufzer der Erleichterung drangen aus der Menge. Die Gesichter der Leute wurden von den Scheinwerfern der Autos angestrahlt, die kreuz und quer auf der Wiese und auch auf der Brücke parkten. Die Mienen der Schaulustigen reichten von angespannt über aufgeregt bis hin zu verängstigt.
» Josh, Josh!«, riefen sie wie im Chor.
Alle schienen seinen Namen zu kennen.
Da fiel mir das bunte Blinken der Einsatzfahrzeuge auf, die ihre eigene Gruppe hinter den Umstehenden auf der Brücke gebildet hatten. Es schienen höchstens Sekunden zu vergehen, bis zwei Sanitäter die Böschung hinuntergeklettert waren und neben dem Jungen knieten, um ihn auf ihre eigene, wirksamere Weise rasch zu untersuchen. Binnen weniger als einer Minute wurde der Junge – mein Junge, wenn ich in meinen auf einmal besitzergreifenden Gedanken ehrlich war – auf eine Krankentrage gelegt, die Böschung emporgehievt und dann weiter nach oben auf einen Krankenwagen zu. Die Menge drängte mit den Sanitätern voran, und ich verlor ihn aus den Augen.
Eigentlich hätte die Qual damit ein Ende haben sollen. Doch ich konnte einfach nicht stehenbleiben. Ich konnte nicht mit ansehen, wie Fremde den einzigen lebenden Menschen wegschafften, der mich sehen konnte. Meinen Jungen. Meinen Josh.
Fest entschlossen schob ich mich durch die Menge. Die Leute
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