Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
Frage war, die mich die ganze Zeit umgetrieben hat. Was sollâs? Wenn ich tot bin â wenn ich nichtsverändern kann, wenn ich es nicht in Ordnung bringen kann â was soll es dann?
»Sam hat Recht.« Lindsay, die es immer noch nicht begriffen hat, zwinkert mir zu. »Es ist Valentinstag, wisst ihr? Zeit der Liebe und der Vergebung, sogar für die Psychos dieser Welt.« Sie hebt eine Rose hoch, als wäre sie ein Glas Champagner. »Auf Juliet.«
Ally und Elody heben kichernd ihre Rosen. »Auf Juliet«, sagen sie wie aus einem Mund.
»Sam?« Lindsay zieht die Augenbraue hoch. »Würdest du mit uns anstoÃen?«
Ich drehe mich um und gehe zum hinteren Teil der Zwölftklässlerecke, zur Tür, die direkt auf den Parkplatz hinausführt. Lindsay brüllt etwas und Ally ruft: »Sie hat sie nicht weggeschmissen, okay?« Â
Ich gehe trotzdem weiter, schlängele mich an Tischen mit Essen und Rosen und Taschen vorbei, an denen alle Welt unbeirrt redet und lacht. In mir schmerzt etwas, das sich anfühlt wie Bedauern. Alles sieht so bescheuert und glücklich normal aus: Alle verschwenden Zeit, weil sie so viel Zeit zu verschwenden haben; ganze Minuten verstreichen über Wer mit wem und Habt ihr schon gehört .
Am Horizont hängt die schwarze Linie aus Wolken, ein Vorhang, der sich bald schlieÃen wird. Ich suche den Parkplatz nach Juliet ab und wippe dabei auf den Zehen auf und ab, damit mir nicht kalt wird. Aus einem Auto in der Zwölftklässlergasse dröhnt Musik und ich erkenne Krista Murphys silbernen Taurus, der auf die Ausfahrt zuschieÃt. Abgesehen davon ist der Parkplatz wie ausgestorben. Juliet ist irgendwo mit der Landschaft aus Metall und Asphalt verschmolzen.
Ich atme tief ein und beim Ausatmen bildet sich eine Wolke vor meinem Mund. Ich genieÃe es, wie die Luft im Hals sticht. Ich bin beinahe erleichtert, dass Juliet weg ist, weil ich gar nicht genau weiÃ, wasich zu ihr sagen soll. Und sie hat immerhin die Blumen nicht weggeworfen. Das ist ein gutes Zeichen. Ich stehe noch einen Augenblick länger dort, wippe auf meinen Zehen und denke: Heute Nacht werde ich diese Sache los sein. Denke an all die Dinge, die ich in meinem Leben noch tun werde. Mit Izzy zum Gänsestein gehen, bis sie zu alt ist, noch Lust darauf zu haben. Alleine was mit Elody machen. Mit Lindsay nach New York zu einem Yankees-Spiel fahren, mich mit Hotdogs vollstopfen und alle Spieler ausbuhen.
Kent küssen. Richtig küssen, langsam und lange, irgendwo drauÃen â vielleicht während es schneit. Vielleicht im Wald. Er wird sich vorbeugen und wieder kleine Schneeflocken in seinen Wimpern haben und er wird mir die Haare aus dem Gesicht streichen und mir eine warme Hand in den Nacken legen, eine Hand, die so warm ist, dass sie mich fast verbrennt â¦
»Hallo, Sam.« Kents Stimme.
Mit einem Aufschrei drehe ich mich um und stolpere über meine eigenen FüÃe. Genau wie vorhin bei Juliet Sykes bin ich so in meinen Gedanken an Kent versunken, dass sein Auftauchen mir vorkommt wie ein Traum oder Wunschdenken. Er trägt ein altes Cordjackett mit Flicken an den Ellbogen wie ein schusseliger â und hinreiÃender â Englischlehrer. Der Cord sieht weich aus und ich verspüre den Drang, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren, ein Drang, der nichts mit meinem generellen Gefühl für den heutigen Tag und die Kostbarkeit der Dinge zu tun hat.
Kent hat seine Hände in den Taschen vergraben und die Schultern hochgezogen, als versuchte er so, warm zu bleiben. »Heute kein Mathe?«
»Ãh ⦠nein.« Den ganzen Tag über habe ich darauf gehofft, ihm zu begegnen, aber jetzt bin ich total leer im Hirn.
»Wie schade.« Kent grinst mich an, dabei läuft er auf der Stelle. »Du hast ein paar Rosen verpasst.« Er wirft seine Tasche über eine Schulter und zieht den ReiÃverschluss auf, dann holt er die rosa und cremefarben melierte Rose, an der eine goldene Karte hängt, heraus. »Ein paar sind, glaube ich, zurück ins Büro gewandert. Aber die hier wollte ich ⦠äh ⦠dir selber bringen. Sie ist ein bisschen zerquetscht. Tut mir leid.«
»Sie ist nicht zerquetscht«, sage ich schnell. »Sie ist schön.«
Er beiÃt sich seitlich auf die Unterlippe â das SüÃeste, was ich je gesehen habe. Wahrscheinlich ist er nervös.
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