Wenn du wiederkommst
getrübt. Ich erinnere mich an eine Fourth of July-Parade,
als Ilana elf Jahre alt war, sie hatte genug gesehen und wollte heim, aber Jerome war einen ganzen Häuserblock weit von uns entfernt und hinter den Absperrungen drängten sich die Menschen. Ruf ihn, sagte ich zu ihr. Dad, rief sie mit ihrer hellen Kinderstimme, nur diese eine Silbe, und er drehte sich ohne zu zögern nach dieser Stimme um, als wäre es der einzige Name, auf den er je gehört hatte. Hunderte Kinder waren auf der Straße und lärmten, aber er hörte ihre Stimme unter allen andern heraus. Es gab nur einen Menschen, der mit dieser vertrauten Silbe nach ihm rufen konnte. Für die beiden war es eine Selbstverständlichkeit gewesen, nur ich erinnere mich daran als einen der schönsten Augenblicke unserer gemeinsamen Jahre. Wenn ich sie ansehe, finde ich Jeromes Züge in ihrem Gesicht, seine graugrünen, tiefliegenden Augen, die schmale, gerade Nase, das Kinn mit dem Grübchen.
Später erzählt sie mir von den Stunden, als der Tod ihres Vaters in ihr Leben einbrach: der Anruf seines Freundes Leslie, Jerome sei zusammengebrochen und ins Mass General Hospital gebracht worden, ihre überstürzte Fahrt zum Spital, wie sie in einen Stau geriet und das Auto entlang der Route 128 auf einem Parkplatz des Pendlerzugs stehenließ und dann mit der Subway weiterfuhr und sich seither den Vorwurf mache, sie wäre vielleicht mit dem Auto schneller vorangekommen und hätte ihn noch lebend angetroffen. Wie in der dichten Menge des Subway-Waggons ihr Handy läutete und Leslie sagte, das Schlimmste sei eingetreten, und sie verständnislos fragte: Was ist das Schlimmste? Und daß sie noch mehr Zeit verlor, weil sie die Notaufnahme nicht gleich fand. Wie ihr Vater dagelegen sei, als schliefe er, die Kanüle noch im Arm, in seinen Händen ein Rest von Wärme, aber die Wangen kalt. Ich weiß nicht, ob seine Finger noch beweglich waren, sagt sie. Leslie, sein alter
Freund, war da und Louise, sie habe sich als seine Verlobte ausgegeben, damit man sie hineinließe. Ich reagiere nicht, lasse sie erzählen. Ich habe das Sch’ma Jisrael für ihn gesagt, flüstert sie weinend, weil ihm ja doch keine Zeit mehr blieb, es selber zu sagen. Es ist alles so unwirklich, sagt sie.
Keine fünfzig Stunden sind vergangen, seit Jerome das Haus zum letzten Mal verließ, aber es sind nicht mehr dieselben Räume. Die Stöße von Büchern, Zeitschriften und Aktenordnern, von Zetteln in Kartons und Schachteln entlang der Wände, die von Zeit zu Zeit drohten das Wohnzimmer und das Arbeitszimmer von den Rändern zur Mitte hin zuzuwuchern, sind sauber aufeinandergeschichtet und zum Teil verschwunden. Aber es sieht nicht aufgeräumt aus, es sieht wie der Schauplatz einer Katastrophe aus, nachdem die Aufräumtrupps ihn verlassen haben, ein Ort in seiner entseelten Nacktheit.
Fühl dich wie zu Hause, sagt mein Schwager, und läßt mir den Vortritt ins Wohnzimmer.
Ich bin hier zu Hause, ich war gerade vor einer Woche noch da, antworte ich und verstehe nicht, was er meint und warum er sich als der neue Hausherr fühlt.
Meine Schwägerin Emily kommt uns zur Begrüßung nicht entgegen, sie sitzt vor einem großen Karton und sortiert Papiere, legt die einen in Stapeln auf dem Tisch ab und wirft andere in einen schwarzen Müllsack. Sie läßt sich kurz meine Umarmung gefallen und wendet sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie begegnet mir mit einer Fremdheit, fast Feindseligkeit, die ich nicht erwartet hatte. Statt angesichts des Schreckens zusammenzurücken, wenden sie sich von uns ab, als wollten sie ihre Trauer nicht mit uns teilen. Eifersüchtig wachen sie über ihren Status als Hinterbliebene, es ist etwas Exklusives an ihrer Trauer.
Wer hat ihr erlaubt, sich an seinen Papieren zu schaffen zu machen? frage ich Ilana leise.
Sie zuckt die Achseln. Laß sie, ich habe es ihnen erlaubt, irgendwer muß es ja tun.
Sieht es nicht schon viel netter aus? fragt Harold.
Leerer, sage ich.
Wollen wir zum Abendessen ausgehen oder sollen wir etwas zum Essen holen? fragt Ilana.
Wir brauchen Abstand und Zeit für uns selber, erklärt Harold, am besten, ihr kauft für euch beide ein. Wir wohnen im Hotel.
Wir sehen uns an, keine will in den Wolkenbruch hinaus. Wir werden im Kühlschrank schon etwas Eßbares finden, beschwichtige ich sie. Ich kann ohnehin seit zwei Tagen nicht essen.
Ich auch nicht, sagt Ilana, ich habe eher an euch gedacht.
Hast du gewußt, wie schlecht es ihm geht? fragt Ilana am Abend.
Wenn
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