Wenn du wiederkommst
warteten sie, daß Jerome zurückkommt.
Unser Haus liegt am Charles River, an einer Flußbiegung mit einer kleinen Landzunge am anderen Ufer. Wir kauften es wegen seiner zwei verschiedenen Gesichter. Zur Straße hin ist es klein und unansehnlich, ebenerdig, fast eine Kate, direkt in der Kurve, mit einem winzigen Vorgarten, zu klein für einen Rasen, gerade groß genug für zwei Rosenstöcke, ein paar Rosmarinstauden, Lavendel, Salbei, hinter dem niedrigen Holzzaun, eine Fassade wie für ein Puppenhaus. Aber auf der Rückseite ist es ein Floß im Amazonas, mit breiten Fenstern vom Boden bis zur Decke, kaum unterteilten Glaswänden, und davor Eschen und Ahornbäume, die aus der steilen Uferböschung aufragen, und dahinter die Mitte des Flusses zwischen den Baumkronen. Der Abstieg zum Fluß ist beschwerlich, es gibt eine schmale, ins Erdreich gehauene und mit Holzbohlen verstärkte Treppe, die nach jedem Wolkenbruch vermurt. Die erodierten Wurzeln der mächtigen Bäume klammern sich zwischen morschem Treibholz, das sich bei Überschwemmungen festgekeilt hat, und Nesseln an die Böschung. An dieser Stelle ist der Charles River so breit, daß das andere Ufer sehr fern erscheint, aber dort drüben sind ohnehin nur eine Regulierungsmauer und Fabrikschlote, farblos und häßlich. Man vergißt sie einfach, wenn man im Sommer
am Rand der großen Veranda wie in einem Baumhaus sitzt. An seiner Rückseite ist das Haus zweistöckig und imposant, aber man müßte schon in einem Schiff vorbeifahren, um es so zu sehen. Ich habe mir vorgestellt, in diesem Haus gemeinsam mit Jerome alt zu werden, weil ich immer davon ausging, daß wir die letzten Jahre unseres Lebens wieder zusammen hier wohnen würden, ohne Eifersucht, ohne die Sehnsucht nach einem anderen Leben, die uns immer wieder entzweit hatte. Auch jetzt stelle ich es mir vor und vergesse einen Augenblick lang, daß er tot ist.
Im Schlafzimmer ist das Bett nicht gemacht. Hemden liegen auf dem zerknitterten Leintuch. Mitten im Raum steht ein grüner Plastiksack mit der Aufschrift MASS GENERAL HOSPITAL. Man hat ihn Ilana mitgegeben, die Kleider, die ihr Vater an seinem letzten Tag trug: Sie haben ihm alles ausgezogen, bis auf die Unterhose. Die dunkelgraue Hose, mit dem Seidenfutter nach außen gestülpt, auch das Hemd mit von innen nach außen gedrehten Ärmeln, ein weißes Hemd, frisch gebügelt, die rote Krawatte, nach der er griff, wenn er es eilig hatte, das grauschwarz karierte Wollsakko, viel zu warm für Anfang Mai, er muß ins Schwitzen gekommen sein, die Socken, die schwarzen Lederschuhe, schwer von den Einlagen, die ihn um einige Zentimeter größer und das Gehen schwer machten, seit ich ihn kannte, trug er spezialgefertigte Elevator Shoes, die Armbanduhr, ein zerknülltes Batisttaschentuch mit seinen Initialen, ein paar lose Münzen, die aus der Hosentasche gefallen sein müssen. Seine abgegriffene Brieftasche gab mir der Schwager bei der Ankunft. Hundertachtzig Dollar waren drin, Kreditkarten, der Führerschein. Ich lasse alles im Schlaf zimmer zurück und lege mich auf das Sofa im Arbeitszimmer, denke, das ist die erste Nacht meines Lebens danach, versuche,
mir seine letzte Nacht in diesem Haus vorzustellen. Ob es ihm schlechter gegangen ist in dieser letzten Nacht seines Lebens? Zuletzt schlief er lieber halb im Sitzen im Fernsehsessel, ging erst gegen Morgen zu Bett, er hatte oft Schmerzen in der linken Schulter, die er für Rheumatismus hielt. Man fühle einen kalten Schmerz über dem Brustbein, als griffe eine eisige Hand nach dem Herzen -ich weiß nicht mehr, wo ich das gehört oder gelesen habe. Hatte er einen Traum? Er träumte oft von seinen Eltern, er war überzeugt, daß sie aus dem Jenseits eine Art Verbindung zu ihm hielten. Am Morgen erzählten wir einander unsere Träume, und wenn er von seinen Eltern geträumt hatte, fürchtete er sich, daß etwas Schreckliches passieren könnte, denn die Toten nähmen nicht ohne triftigen Grund den weiten Weg zu uns. Die vielen Tode, die ihm nahegingen, bevor der eigene kam. Der Schlaganfall der noch jungen Mutter mit der darauffolgenden Behinderung, bevor sie mit zweiundvierzig Jahren starb, der frühe Tod des Vaters, in einer Nacht, in der Jerome sich amüsierte und nicht erreichbar war, wofür er sich sein Leben lang schuldig fühlte, der Unfalltod seines Kindheitsfreundes vor seinen Augen. Die Toten waren so gegenwärtig, als lebten sie mit uns. Aber die Einübung in den Tod ist eine Illusion, sie lehrte ihn nur
Weitere Kostenlose Bücher