Wenn du wiederkommst
zurück, bevor der Faden reißt, an dem sein Leben seit geraumer Zeit schon gehangen war. Als müßte ich aus seinen letzten Verrichtungen, aus der leeren Tasse und dem verwelkten Salatblatt auf dem Teller Botschaften herauslesen, die schon beinahe aus dem Jenseits kommen, mit einem zusätzlichen Wissen, das mir als Lebender versagt ist. Als wüßte ich nicht, daß es keine Kommunikation zwischen hier und drüben gibt. Aber gerade das Schweigen ist so schwer zu ertragen, wenn man sich nach einem einzigen, noch so unscheinbaren Zeichen sehnt.
Nach einer Stunde auf dem Sofa stehe ich wieder auf, ohne Licht zu machen. Es ist halb zwei. Ich kenne die Gegenstände in jedem Raum auswendig, bewege mich zwischen ihnen ohne anzustoßen, berühre sie kaum, als wären sie vertraute Körper, die an seiner Statt atmeten. Nur über meinen halbleeren, überflüssigen Koffer stolpere ich, er ist ein Fremdkörper. Neben dem Computer liegt ein Blatt Papier, auf das er mit großen Buchstaben ein Gedicht von William Butler Yeats geschrieben hat: Man brought Death into the World . Jemand hatte Jerome ein paar Tage zuvor gebeten, für einen verstorbenen Richter eine Grabrede zu halten, und er hatte den Thesaurus nach
Gedichten über den Tod durchsucht oder vielleicht hatte er sich von früher an dieses Gedicht erinnert. Der Tod war in den letzten Monaten in vielerlei Gestalt an ihn herangetreten, aber Jerome hatte ihn stets verhöhnt oder ignoriert. Im Winter lag einige Wochen lang Der Tod des Ivan I jitsch im Schlafzimmer herum. Seltsam altmodisch erzählt, meinte er dazu. Ende April kaufte ich den gerade erschienenen Roman von Philip Roth. Hast du Everyman schon angefangen, fragte ich bei unserem letzten Telefongespräch am Abend vor seinem Tod. Schon gelesen, sagte er. Und, wie ist er? Deprimierend, sagte er, am liebsten möchte man sich gleich für den Sarg Maß nehmen lassen, wenn man sich vorstellt, was einem noch alles bevorsteht. So begegnete er seiner Angst vor dem Tod: mit dem grimmigen schwarzen Humor, für den ich ihn liebte. Auch wenn ich wütend war, selbst wenn ich in gekränktes Schweigen verfiel, konnte er mich damit zum Lachen bringen.
Es ist still mitten in der Nacht. Totenstill. Ich öffne Schubladen und Fächer, die ich noch nie geöffnet habe, und fühle mich wie ein Eindringling, eine nächtliche Einschleichdiebin. Manche Laden sind bereits leer, vom Eifer der Schwägerin einem Ordnungsprinzip oder einem Vernichtungssystem unterworfen, das ich noch nicht durchschaue. Ich lege seine Uhr in eine Schublade, seinen Führerschein, seine Brieftasche, seinen Paß, den Notarstempel. Lauter Dinge, die man auf keinen Fall verlieren will, sie sicherten ihm vor dem Gesetz das Recht, der zu sein, der er war. Alles, was für seine Identität bürgte, fällt nun ohne ihn in seine tote Gegenständlichkeit zurück, hat nichts mehr mit dem zu tun, was er jetzt ist, nackt auf einer Bahre, in einem Kühlfach, oder schon von den Männern der Chewra Kadischa gewaschen und in einen Gebetsmantel gehüllt im Sarg. In wessen Gebetsmantel? Er besaß
keinen, borgte sich zu den Hohen Feiertagen einen von der Synagoge aus. Dann eben nur in ein Laken, ich werde es nie wissen.
Auch aus den Schreibtischladen sind die wichtigen Dokumente und Akten schon verschwunden, dort und da liegt noch ein abgebrochener Bleistift, eine Büroklammer, ein vergilbtes einzelnes Blatt Papier. Im untersten Fach finde ich ein gefaltetes Pergamentblatt, das an der Rückwand festklemmt. Noch bevor ich es öffne, weiß ich, daß es unser Verlobungsvertrag ist. Nach fünfunddreißigJahren lese ich es zum erstenmal wieder, dieses nur für uns verfaßte Dokument in der Sprache eines jungen Juristen, der sich um Objektivität bemüht, obwohl von Liebe die Rede ist. Es ging uns darin nicht um Sicherheiten im Fall der Scheidung, und an Besitz und Güterteilung dachten wir damals nicht. Wir stellten hohe Ansprüche an uns selber, Ansprüche, an denen wir dreißig Jahre lang immer von neuem scheiterten und die wir irgendwann vergaßen. Aber am Ende haben sie, beschädigt und viele Male gebrochen, trotzdem alle Trennungen überlebt. Wir wollten vernünftig lieben, mit Maß und gegenseitigem Respekt. Wir waren beide davor schon zu oft blind und maßlos verliebt gewesen, und ahnten, daß niemand einem anderen Menschen auf Dauer alles sein konnte, wonach er sich sehnte. Damit unsere Liebe niemals ende, versprechen wir einander, habe ich in feierlicher Schönschrift mit Haarlinien
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