Wenn ein Reisender in einer Winternacht
ich bei einer früheren Lektüre hatte, wiedererleben möchte, erhalte ich andere, unerwartete Eindrücke und finde die früheren nicht mehr wieder. Manchmal scheint mir, von der einen Lektüre zur anderen sei ein Fortschritt, etwa im Sinne eines tieferen Eindringens in den Geist des Textes oder auch eines größeren kritischen Abstandes.
Dann wieder scheint mir, ich behielte die verschiedenen Lektüren ein und desselben Textes gleichwertig nebeneinander im Gedächtnis, begeisterte oder kühle oder ablehnende, über die Zeit verstreut, ohne innere Perspektive, ohne verbindenden Faden. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß die Lektüre - die Aktivität des Lesens - eine Operation ohne Gegenstand ist. Oder anders ausgedrückt, ihr wahrer Gegenstand ist sie selbst. Das Buch ist nur ein äußeres Hilfsmittel oder gar nur ein Vorwand.«
Ein vierter Leser schaltet sich ein: »Wenn Sie die Subjektivität des Lesens hervorheben wollen, kann ich Ihnen nur zustimmen, allerdings nicht in dem zentrifugalen Sinn, den Sie ihr geben wollen. Jedes neue Buch, das ich lese, wird Teil jenes einheitlichen und allumfassenden Buches, das aus der Summe aller meiner Lektüren hervorgeht. Das geschieht nicht ohne Anstrengung: Um jenes Gesamtbuch zu bilden, muß jedes Einzelbuch sich verändern, transformieren, in eine Beziehung treten zu den Büchern, die ich vorher gelesen habe, ihre Fortsetzung oder Weiterentwicklung werden, ihre Widerlegung oder ihr Beiwerk oder ihr Kommentar oder ihr Bezugstext. Seit Jahren komme ich regelmäßig in diese Bibliothek und erforsche sie Band für Band, Regal für Regal, aber ich könnte Ihnen beweisen, daß ich nichts anderes getan habe, als vorzudringen in der Lektüre eines einzigen universalen Buches.«
»Auch für mich führen alle Bücher, die ich lese, zu einem einzigen Buch«, sagt ein fünfter Leser, der hinter einem Stapel dicker Folianten auftaucht, »aber zu einem Buch, das weit zurückliegt in fernen Tagen und kaum noch in meinen Erinnerungen hervortritt. Es erzählt die Geschichte, die für mich vor allen anderen Geschichten kommt und von der ich in allen Geschichten, die ich lese, ein fernes Echo zu hören meine, das sofort wieder verklingt. In allem, was ich lese, suche ich immer nur jenes Buch, das ich einst in meiner Kindheit las, aber ich habe zu wenig davon behalten, um es je wiederzufinden.«
Ein sechster Leser, der die Regale abgeschritten hatte, um sie mit hochgereckter Nase zu inspizieren, tritt an den Tisch. »Für mich zählt am meisten der Augenblick, der dem Lesen vorangeht. Manchmal genügt schon der Titel, um in mir das Verlangen nach einem Buch zu wecken, das vielleicht gar nicht existiert. Manchmal der Anfang des Buches, das Incipit, die ersten Sätze. .. Kurzum, wenn Ihnen wenig genügt, um Ihre Phantasie in Gang zu setzen, so genügt mir noch weniger: die bloße Verheißung der Lektüre.«
»Für mich zählt am meisten das Ende«, sagt ein siebenter Leser, »aber das wahre Ende, das letzte, das im Dunkel verborgen liegt, der Schlußpunkt, zu dem das Buch uns hinführen will. Auch ich suche beim Lesen stets nach Löchern und Ritzen«, stimmt er dem Herrn mit den geröteten Augen zu, »aber mein Blick gräbt zwischen den Wörtern, um zu erkennen, was sich in der Ferne abzeichnet, in den Räumen, die sich nach dem Wort >Ende< erstrecken.«
Der Moment ist gekommen, daß auch du dich nun äußerst. »Meine Herren, ich muß vorausschicken«, sagst du, »mir gefällt es, in den Büchern nur das zu lesen, was dasteht; und die Details mit dem Ganzen zu verbinden; und gewisse Lektüren als definitiv zu betrachten; und mir gefällt es, die einzelnen Bücher auseinanderzuhalten, jedes nach dem, was es an Neuem und Besonderem hat; und vor allem gefallen mir Bücher, die man zügig durchlesen kann, von Anfang bis Ende. Aber seit einiger Zeit geht mir irgendwie alles schief: Mir scheint, es gibt heutzutage auf der Welt nur noch Geschichten, die in der Schwebe bleiben oder sich unterwegs verlieren.«
Der fünfte Leser antwortet dir: »Auch von jener alten Geschichte, die ich vorhin erwähnte, habe ich nur den Anfang noch gut in Erinnerung, alles übrige ist mir entfallen. Es müßte eine Erzählung aus Tausendundeiner Nacht gewesen sein. Ich vergleiche zur Zeit die verschiedenen Ausgaben, die Übersetzungen in alle Sprachen. Ähnliche Geschichten gibt es viele, auch mit vielerlei Varianten, aber keine ist die gesuchte. Ob ich sie nur geträumt habe? Jedenfalls weiß ich, daß ich
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